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1. Teil
Kassel als Industrie- und Handelsplatz
technischen Zwecken. Die Erzeugnisse der Kasseler Firmen der
Feinmechanik haben sich ihren Weg in fast alle Kulturstaaten der
Welt gebahnt. Sie haben mit dazu beigetragen, daß sich in weiten
Kreisen des Auslands, das während des Kriegs diese Erzeugnisse
deutschen Gewerbefleißes sehr entbehrte, die Erkenntnis von der
Unentbehrlichkeit deutscher Industriearbeit immer mehr durchrang.
Auch auf dem Gebiet der Optik weist Kassel beachtenswerte Be-
triebe, die sich mit dem Vertrieb von galiläischenGläsern,
Feldstechern, Mikroskopen usw. befassen, auf.
Von großer Bedeutung ist für Kassel die Textil
industrie, die sich vor allem durch die Herstellung von
„Schwergewebe n" einen Namen gemacht hat. Die hier in
Betracht kommenden 4 Kasseler Werke befassen sich vorzugsweise
mit der Herstellung von schweren Leinenqualitäten für Segel-
t u ch e aller Art, wie Schiffahrtssegeltuchen, Segeltuchen für
Zelte (auch fertige Zelte, Faltboote usw.), Wagen- und Waggon-
decken, technischen Geweben (Preß- und Filterstoffe für die Farben-,
chemische, keramische und Zuckerindustrie), Schuh- und Koffersegel
tuchen, Kunstleder, Einlegestoffen für Auto- und Fahrradreifen,
Arbeiterbekleidung usw. Die Betriebe sind mit modernsten Fär
berei- und Imprägnieranstalten ausgerüstet. Die Kasseler Segel
tuchindustrie gehört zu den einheimischen Industriezweigen, die
für den Verlust großer und zahlungskräftiger Abnehmerkreise
(Heer und Marine) nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges
durch Aufnahme neuer einschlägiger Fabrikationsartikel einen Aus-
gleich gesucht und wohl auch gefunden haben. Im Jahre 1883
entstand eine I Utespinnerei und - W e b e r e i, die sich in
den letzten Jahrzehnten besonders entwickelt hat. Größter Wert
schätzung der Fachwelt erfreut sich auch der „K a s s e l e r B l a u -
d r u ck", der von einem Unternehmen hergestellt wird, das sich
feit dem 18. Jahrhundert in Kassel befindet. Schließlich hat man
in Kassel auch der Wollwäscherei von jeher großes Interesse
entgegengebracht.
Besondere Beachtung verdienen auch die Erzeugnisse, die in
gewissem Sinne als „Kasseler Spezialitäten" ange-
sprachen werden können. Dies ist der Fall für die Industrie, die
sich mit der Herstellung von pharmazeutischen Bedarfs
artikeln befaßt, die Apotheken und Drogengeschäfte mit allen
von ihnen benötigten Gebrauchsgegenständen — mit Ausnahme
der Medikamente selbst — versorgt. Diese Industrie besteht schon
über 120 Jahre in Kassel. Großer Wertschätzung erfreut sich Kassel
auf dem Gebiet der Herstellung von In st r umenten aus
Glas und Hartgummi für chirurgische und sani
täre Zwecke. Gewinnung und Verarbeitung von Farben
(Kasseler Braun und andere Erdfarben) und Lacken sind alte ein
heimische Industriezweige. In der deutschen Iündwaren-
i n d u st r i e ist unsere Stadt schon seit vielen Jahrzehnten be
kannt; zu bedauern ist nur, daß die wirtschaftlich bedeutendste
Gruppe der deutschen Iündholzindustrie, die bisher ihren Sitz in
Kassel hatte, diesen aus technischen und wirtschaftlichen Gründen
nach auswärts verlegt hat. Bekannt und beliebt sind ferner die
Erzeugnisse der Kasseler Papier- und Papierwaren
industrie, wie Buntpapier, Düten, Faltschachteln, Umhüllun
gen, Reklame- und Plakatdrucke, Kartonnagen usw., der Leder-
und Lederwaren in dustrie (Unter- und Oberleder, Schuhe,
Treibriemen, feine Lederwaren usw.) und der Tapisserie
und E t i ck e r e i i n d u.st r i e. Berühmt und geschätzt sind die
Instrumente der P i a n o f o r t e i n d u st r i e , deren Erzeugnisse
die Anerkennung großer Meister gefunden haben. Auch auf dem
Gebiet der Holzindustrie hat sich Kassel einen Namen gemacht;
wir erwähnen: die Faß-, Stock - und Pfeifenfabri-
k a t i o n. Die Nahrungs- und Genußmittelindustrie
ist durch Herstellung von Nährmitteln (Hohenlohe), Keks, Biskuits,
durch Mühlen, Brauereien und die Tabak- und Iigarrenfabrikation
vertreten.
Auch als Handelsplatz verdient Staffel besondere Be
achtung. Als einzige größere zentral gelegene Stadt innerhalb
eines räumlich ausgedehnten Bezirks bietet sie zunächst dem Groß
handel eine wesentliche Vorbedingung für die Anknüpfung
weitreichender geschäftlicher Beziehungen. Für einzelne Geschäfts
zweige erstrecken sich diese Beziehungen sogar über die Grenzen
unseres Vaterlandes hinaus, beispielsweise für den Groß
handel mit Gummiwaren für medizinische und
sanitäre Zwecke, mit chirurgischen Instrumenten
und Bedarfsartikeln der verschiedensten Art. Einige Großhandels
zweige haben zur Förderung der geschäftlichen Beziehungen börsen-
ähuliche Einrichtungen geschaffen, so der Getreidehandel
durch den „Getreide-, Futter- und Düngermarkt", der Handel mit
Rohhäuten und Leder durch Veranstaltung großer Häute
auktionen, verbunden mit einer Lederbörse, und schließlich der
Holzhandel durch die neuerdings wieder ins Leben gerufene
Holzbörse. Unter den im Kasseler Großhandel vertretenen Ge
schäftszweigen sind ferner hervorzuheben: Baumwoll- und
Manufakturwaren, Kolonialwaren, Felle,
Wolle, Eisen, Schrott, Papier, Lumpen usw. Der
E i n z e l h a n d e l hat in Kassel dieselbe Entwicklung wie anders
wo durchgemacht. Aus dem älteren Gemischtwarengeschäft haben
sich durch Differenzierung und Spezialisierung Geschäfte heraus
gebildet, die durch besondere Aufmachung und Führung guter
Qualitätswaren auch den verwöhntesten Ansprüchen genügen.
Auch die Zusammenfassung der verschiedensten Warenzweige in der
Form des Warenhauses ist vertreten.
Hand in Hand mit dem Aufblühen von Industrie und Handel
geht die Ausdehnung des Pankgewerbes. Neben alteinge
sessenen, bewährten Privatbanken ist Kassel im Lauf der Zeit der
Sitz von Zweigniederlassungen größter Aktienbanken geworden.
Wenn auch durch den Rückgang des bankgeschäftlichen Verkehrs
unter der Auswirkung der Stabilisierung unserer Währung die
von den Kasseler Banken eingerichteten Filialen und Depofiten-
kassen, wie anderwärts, eine erhebliche Einschränkung erfahren
haben, so läßt doch die Entwicklung des deutschen Geldmarktes
im letzten Jahr den Schluß zu, daß es auch mit den Banken wieder
aufwärts geht.
Unsere Skizze „Kassel als Industrie- und Handelsplatz" würde
unvollstädig sein, wollten wir des belebenden Faktors im Wirt
schaftsleben — des Verkehrs — nicht gedenken. Verkehr
vermittelt Anregungen, fördert Erzeugung und Verbrauch. Ohne
Verkehr keine wirtschaftlichen Höchstleistungen. Kassel, das von
jeher auf Grund seiner landschaftlichen Schönheiten eine starke An-
ziehungskraft ausgeübt hat, hat alle Veranlassung, den Verkehr
sorgsam zu pflegen. Dank der Bemühungen der an der Verkehrs
entwicklung interessierten Kreise, nicht zuletzt der Stadtverwaltung,
ist Kassel auf dem besten Weg, „die"StadtdesFremden-
Verkehrs und der Kongresse zu werden. Hotel-
und Ga st wirtsgewerbe tun ihr Möglichstes für die Unter-
bringung und Verpflegung der Fremden. Ziehen wir aus der zen-
tralen Lage unserer Stadt die Konsequenzen durch intensivste
Förderung der modernsten Verkehrseinrichtungen! Die Zug-
Verbindungen nach und ab Kassel müssen besser, viel besser
werden. Der Kraftwagenverkehr ist in erfreulicher Zu-
nähme begriffen. Für den großen Durchgangsverkehr müssen die
Landstraßen, die sich z. Zt. zum Teil in einem geradezu be
jammernswerten Zustand befinden, verbessert werden. Ob der
Plan, besondere Automobilstraßen zu bauen, in absehbarer
Zeit verwirklicht werden wird, wissen wir heute noch nicht;
es muß anerkannt werden, daß bei allen in Betracht
kommenden Kasseler Stellen die Ansicht vertreten wird,
daß man sich auch an der Förderung solcher Pläne aktiv
beteiligen muß. Unabsehbar sind die Entwicklungsmöglich,
keilen des Luftverkehrs. Seit Jahren besitzt Kassel ein«
F l u g z e u g i n d u st r i e , die sich der Herstellung bewährter
Sport- und Kleinflugzeuge widmet. Die Einbeziehung Kassels in
den internationalen Flugverkehr ist durch den von der Deutschen
Lufthansa A.-G. eingerichteten Flugdienst, wenn auch vorerst nur
teilweise, gelungen. Erfreulicherweise hat der Luftverkehr über,
nach und ab Kassel im Sommer 1927 eine starke Zunahme er-
fahren, so daß in diesem Jahre zum ersten Male auch im Winter
für bestimmte Strecken der Flugverkehr über Kassel durchgeführt
werden kann. Die Einbeziehung Kassels in den internationalen
Flugverkehr erfordert finanzielle Opfer, die jedoch getragen werden
müssen. Bei der großen Zukunft, die menschlicher Voraussicht
nach der Flugverkehr haben wird, und immer eingedenk dessen,
was früher hinsichtlich der Eisenbahnlinienführung versäumt
worden ist, kann kein verantwortungsbewußter Bürger unserer
Stadt dafür eintreten, daß sich Kassel gegenüber der Linienführung
im Flugverkehr passiv verhält.
Ein letztes Wort der Wasserstraße. Durch die im Jahre
1895 vollendete Kanalisierung der Fulda zwischen Kassel und
Münden ist Kassel binnenländischer Endpunkt der Weserschiffahrt
geworden. Es ist oberhalb Bremen die einzige Großstadt an der
Weser-Fulda-Wafferstraße und dazu berufen, ein wichtiger
Binnenumschlagsplatz zu werden, sobald die nunmehr
hoffentlich bevorstehende Kanalisierung der Weser sowie die durch
das Preußische Gesetz vom 20. April 1922 angeordnete Neukanali»