1. ZEHN JAHRE GESAMTHOCHSCHULE KASSEL IN DER RETRO-
SPEKTIVE
Norbert Kluge, Aylä Neusel, Christoph Oehler, Ulrich Teichler
Die Geschichte einer Hochschulneugründung kann auf vielfältige Weise
geschrieben werden: Als offizielle Selbstdarstellung, die leicht zur
euphemistischen Erfolgsbilanz wird; als nüchterne Chronik, die alle
wichtigen Entwicklungsstadien belegt, jedoch nur selten den Standort
und das persönliche Engagement der Beteiligten; als nostalgisch-ent-
täuschter Rückblick der Reformer auf das Auseinanderklaffen von ur-
sprünglichen Zielsetzungen und ihrer Verwirklichung; als zorniger
Abgesang auf ein Reformmodell, das man schon von Anbeginn nicht
wollte. Die Kette der zur Auswahl stehenden Dramaturgien ließe sich
fortsetzen. Die Partialität der jeweiligen Betrachtung ist für Wissen-
schaftler nicht ohne weiteres ermutigend, unmittelbar beteiligte Kron-
zeugen zum Bericht über eine junge Hochschule aufzufordern. Warum
dann ein solcher Sammelband? -
Diese Darstellung füllt sicher zunächst einmal eine Informationslücke.
Zwar sind im letzten Jahrzehnt viele Fragen der Hochschulentwicklung
ausführlich beschrieben und interpretiert worden; doch ist die Gesamt-
hochschule Kassel - gemessen an ihren weitreichenden Reformansprü-
chen und an der Vielfältigkeit der beschrittenen Lösungswege - in den
Publikationen zu Hochschulfragen relativ wenig behandelt worden.
Das zehnjährige Bestehen dieser Hochschulneugründung gab auf ver-
schiedene Weise Anlaß, diese Informationslücke zu schließen. 1 Der
hier vorliegende Sammelband ging dabei vor allem von zwei Vorstel-
lungen aus. Zum einen sollte er ein Kontrastprogramm zu den sonst
typischen Diskussionen über die Verwirklichung der Reformansprüche
einer solchen Hochschule darstellen. Gewöhnlich wird entweder der
ursprüngliche Reformwunsch zum alles beherrschenden Maßstab gegen-
über der Bescheidenheit der Resultate, oder der Blick konzentriert
sich so sehr auf die gegenwärtige Situation, daß die zugrundeliegenden
Perspektiven und Erfahrungen im Prozeß der Umsetzung der Reform-
ansprüche kaum noch sichtbar werden. Demgegenüber soll hier die
kritische Retrospektive Beteiligter dazu beitragen, daß der Lernpro-
zeß einer Institution deutlich werden kann: welche Stärken und Schwä-
chen die Reformkonzeptionen zeigen, wie der Alltag ihrer Umsetzung