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durch Ratsbeschluß vom 5. Januar 1655 wieder in Erinnerung gebracht} Indessen scheint der Sinn für die
schöne Sitte doch stark abgenommen zu haben. 1690 wurde beschlossen, die Stiftung in eine Geldleistung,
nicht unter 20 Gulden, umzuwandeln, die in die städtische Weinkasse fließen und hier nutzbar angelegt werden
sollte. Noch vor 1713 verkaufte der Magistrat fast den ganzen Silberschatz für 1000 Taler, um mit dem
Kapital der Erwerbsquelle des städtischen Weinschankes aufzuhelfen. 1785 findet sich nur noch ein großer
Becher aufgeführt, der sogenannte Willkommen, der wohl mit dem jetzt noch vorhandenen Ratshumpen gleich-
bedeutend ist."
Um die Wende des 18. Jahrhunderts scheint auch die bauliche Bewertung des mittelalterlichen Hauses
stark nachgelassen zu haben. 1791 tauchte der Plan auf, den Treppenturm zu beseitigen; doch wurde noch
an einen Ersatz der unzureichenden engen steinernen Wendelstiege gedacht. Stadtbaumeister Wolf stellte den
Entwurf zum Einbau einer bequemeren Holztreppe auf, der auch beim fürstlichen Steuerkollegium zur Vorlage
aber nicht zur Entscheidung kamß Ein festlicher Tag war dem ehrwürdigen Hause noch zu Beginn der
französischen Fremdherrschaft beschieden. Beim Einzuge König Jerömes am 10. November 1807 wurde das
Rathaus abends feierlich beleuchtet. An der Hauptfront prangte ein mächtiges Transparent, von Zusch gemalt.
Es ruhte auf neun gotischen Arkaden und war mit vier Bögen bekrönt, die, mit Lampen besetzt, bis zum
Uhrturm hinaufragtenß indessen schon im nächsten Jahr verlor das Haus seine Bestimmung. Es wurde,
nachdem die Mairie in das Oberneustädter Rathaus verlegt war, Sitz des Kriminalgerichtes; Wenn auch das Bauwerk
als solches aus diesem Wechsel ohne weiteren Schaden hervorging, so sollte seine Einrichtung auf das
Empfindlichste getroffen werden. Das städtische Archiv ging zum großen Teil verloren. Eine erhebliche
Menge alter Stadtakten und Rechnungen, für die das Oberneustädter Rathaus keinen Raum bot und auf deren
Aufbewahrung man keinen Wert legte, wurde öffentlich verkauft? Unter der „Partie alter unnützer Papiere
und Geräthschaften", die damals verschleudert wurden, dürften sich neben anderm wertvollen lnventar auch
die biblischen Gemälde des Vorsaales befunden haben, über deren Verbleib nichts bekannt ist.
Als 1813 der Kurstaat wiederhergestellt wurde, erhielt auch das Rathaus seine alte Bestimmung zurück.
Einige Jahre später mußte es in beschränktem Umfange wiederum einer staatlichen Behörde Unterkunft gewähren.
1817 ermietete die Regierung die sogenannte Recessierstube und die daran stoßende Kammer, um einen Teil
des Oberschultheißenamtes Cassel, nämlich das Amt Ahna, darin unterzubringenß Die unter dem Rathause
befindlichen großen Remisen und Gewölbe waren um diese Zeit mit der Ratswage an die kurfürstliche Ober-
rentkammer verpachtet. Die beiden kleinen Gewölbe an der Nordseite des Gebäudes, die früher als „Kleine
Schirne" und „Archiv" gedient hatten, erhielt 1818 der Wirt Mensing des gegenüber liegenden Gasthauses zum
Goldenen Helm (jetzt Judenbrunnen Nr. 3) als Weinlagerräume in Pacht. Von 1821 bis 1824 wurde die Schirne
wieder einigen Metzgern eingeräumt, dann aber erneut an Mensing abgetreten. Den Keller, der bis 1831 als
Stadtbranntweinsmagazin benutzt war, verpachtete die Stadt anderweit, nachdem sie 1830 auf ihr Monopol
verzichtet hatte."
Wenngleich ausgangs des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts neben dem Magistrat auch noch die
städtische Polizeikommission, bestehend aus dem Stadtkommandanten, dem Oberschultheißen, Bürgermeister und
einigen Mitgliedern verschiedener Kollegien, noch zweimal wöchentlich im Sitzungszimmerß tagten, war die
Glanzzeit des Rathauses doch endgiltig vorbei. Der Zustand des Baues ließ animehr als einer Stelle zu
wünschen übrig. Zwar wurden 1829 für eine lnstandsetzung „des mittleren schadhaften Thurmes" und „des
1 Stadtarchiv Cassel B 410.
2 Brunner, Rathäuser S. 35 ff.
3 Stadtarchiv Cassel C 40.
fBrunner, Rathäuser S. 62.
5 Brunner, Rathäuser S. 62 f.
6 Stadtarchiv Cassel C 40. '
7 Stadtarchiv Cassel C 40.
8 Grundriß des Sitzungszimmer: Stadtarchiv Cassel C 40.
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