210
Grenzland Rhön
in drei Jahrtausenden deutscher Geschichte')
Von Erwin Bolze
Deutsche Geschichte ist deutsches Schicksal. Reich
bewegt flutet das Geschehen durch den vielgestaltigen
deutschen Raum, reich an Heldentum, reich aber auch an
tiefer Tragik. An einzelnen Brennpunkten im deutschen
Raume verdichtet sich das Erleben jahrtausendelangen
Geschehens, unter ihnen im Kranze der deutschen Mittel
gebirge die Rhön.
In dem mehrzügigen Gebirgsstock der Hohen Rhön
schuf die Natur durch die Wasserscheide zwischen Fulda—
Werra—Main—Kinzig Landschaften mit natürlichen
Grenzen: die Bergkessel, Mulden und Talgründe der
Fulda, Lütter, Haune und Bieber- der Ulster und Felda
der Streu, Brend und Sinn. Überquert werden die
Randbergzüge von Bergpässen und eingespannt sind sie
von den großen Völkerstraßen des Kinzig-Fulda und
Main-Saale-Werratales.
Rach der volkbildenden Lebensgesetzlichkeit des natür
lichen Raumes und der strategisch bedingten Notwendig
keit des Paßbesitzes mußte die Rhön innerhalb des
mitteldeutschen als Grenzgebirge gegen den süddeutschen
Raum ein Sammelpunkt stammes- und staatenbildender
Kräfte und damit ein Schnittpunkt machtpolitischer Aus
einandersetzungen werden. Aus dieser Wechselwirkung
heraus aber mußte auch für die Bewohner des Gebirges
über das Maß des Gewöhnlichen ein Erleben erwachsen,
in dem bitterstes Leid und harter Kampf die freudvollen
Tage ruhigen Lebens überwogen. Grenzlandvolk —
Grenzlandschicksal!
Vor- und Frühgeschichte.
Als sich in der vorgermanischen Zeit aus der Völker
wiege des nordischen Raumes die arischen Mutterstämme
in den europäischen Raum ergossen, überlagerte die
Herrenschicht der Kelten die steinzeitlichen Urstämme
zwischen Alpen, Rhein, Weser und mitteldeutschem Ge-
birgsland- als Nachbarn saßen die Illyrer im ostdeut
schen Raum. Aus dem germanischen Völkerquell des
westlichen Ostseebeckens nachdrängende Stämme — unter
ihnen Cherusker, Hermunduren und Kalten — über
rannten in der frühgermanischen Zeit die Kelten und
drängten sie nach Südwesten ab.
Unter den Steinwällen des keltischen Grenzwalles, der
sich als Sperre vom Harz über Weserbergland, Thü
ringer- und Böhmerwald hinzog, ragte in der buchoni-
schen Wildnis der „Rhina" als natürliche Basaltfestung
die Milseburg empor. Aber auch diese Hauptstütze im
keltischen Bollwerk gegen den germanischen Volksdruck
wird überwältigt. Kalten dringen ein in die Rhön-
l) Vortrag, gehalten aus der Jahreshauptversammlung
des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde in
G e r s f e l d/Rhön am 26. August 1938.
täler, übersteigen die Gebirgspässe, ziehen durch die
großen Talstraßen in die warme und fruchtbare Wet
terau, Main- und Rheinebene.
In dem Jahrhundert vor der Zeitwende begann Rom
seinen Gegenstoß gegen die nach Westen über den Rhein
in das keltische Gallien und nach Süden in den Donau
raum eingedrungenen Germanenstämme. Für zwei Jahr
hunderte sicherten sich die Römer durch den Limes rechts
rheinischen und südgermanischen Boden. Die germani
schen Iungmannschasten waren gezwungen, in inner
deutschen Stammesgebieten Siedlungsräume zu er
kämpfen. So stoßen die Hermunduren über den
Thüringerwald und durch die Werrapforte gegen den
kattischen Besitz Zwischen Thüringerwald, Rhön und Main
vor. Ein Flankenstoß mag dabei durch den Ulstergrund
in den Gersfelder Talkessel geführt worden sein. In er
bitterten Kämpfen um die Salzquellen der Werra und
Salza (fränkischen Saale) 59 n. Z. entreißen die Her
munduren den Kalten das obere Werra-, Saale- und
Sinntal und drängen sie über die Rhön zurück. Zur Si
cherung der Gebirgsgrenzen und der Übergänge zum
Sinn-, Brend-, Streu- und Feldatal besetzen die Her
munduren den Gersfelder Talkessel und den oberen Ul-
stergrund- beide Teile bleiben hermundurisches bzw.
kattisch-hermundurisches Sprachgebiet.
Um 450 dringen die Franken in das Main-
gebiet ein, das die Hermunduren 400 Jahre vorher den
Kalten entrissen und von dem aus sie sich bis in den
Raum Zwischen Oberpfalz, Spessart und Odenwald fest
gesetzt hatten. Die Hermunduren oder Thüringer, wie
sie sich jetzt nennen, werden über den Thüringerwald
zurückgedrängt, stoßen aber 467 wieder siegreich vor, bis
sie 491 der fränkische Teilkönig Chlodwig tributpflichtig
macht. Im Sinntal, Gersselder Kessel und Ulstergrund
bleiben starke Horte hermundurischer Bevölkerung be
stehen. Zur Sicherung der Rhönübergänge wird die
Salzburg als fränkische Königsburg erbaut.
Aber fast ein Jahrhundert noch dauerte der Kampf
zwischen Thüringern und Franken, bis sich Theodorich I.
endgültig im Saalegau durchsetzte und das um Main
und Thüringerwald gelegene Land dem 531 gebildeten
Herzogtum O st franken eingliederte. Karl Mar-
tell erklärte die verbündeten, tributpflichtigen und er
oberten Landschaften als Königsgut, und so bildete Ost
franken mit den hermundurischen (thüringischen) und
kattischen (hessischen) Stammesgebieten unter Karl dem
Großen nur einen Teil des großen Frankenreiches.
Eine mehr als tausendjährige Entwicklung germani
scher Stammes- und Staatengeschichte ist mit der Über
nahme der Kernprovinz Franken in das erste deutsche
Reich Heinrichs I. abgeschlossen. In diesem tausend
jährigen Entwicklungsabschnitt hatten im ehemals kel-