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ist ,,'n Abend!" oder „Nabend!" weit häufiger als das
einfache „Abend!" Wie hier der letzte Nest des flektierten
Adjektivs im Anlaut bewahrt ist, so kommt es auch in
einzelnen deutschen Landschaften vor beim Tischgruß:
man sagt dann nicht „Mahlzeit!", sondern „die Mahl
zeit!" — und das sieht nicht anders aus als wie der
falsch restituierte letzte Nest von „(gesegne)te Mahlzeit!"
Auch der Ausdruck,die Mahlzeit bieten' könnte immerhin
aus diesem Stadium der Kürzung stammen.
Leider bin ich nun nicht in der Lage, bestimmt anzu
geben, wo mir dies „die Mahlzeit!" begegnet ist: viel
leicht am Nhein? in Südwestdeutschland? — oder im
Osten? Ich erinnere mich seiner bestimmt, aber inter
essant ist es mir erst erschienen, als ich begann, an der
„gesegneten Mahlzeit" Anstoß zu nehmen, und das ist
noch nicht lange her. Unsere Wörterbücher haben ja lei
der bis in die allerjüngste Zeit für derartige Erscheinun
gen keinen Platz gehabt.
„Gesegnete Mahlzeit!" scheint, soweit wir es literarisch
belegen können, ein Ausdruck der gebildeten Kreise, und
es hat sich in einer Zeit festgesetzt, als man hier begann,
das längere Tischgebet als unbequem zu empfinden. Es
ist Ersatz — „Ersatz" im Übeln Sinne, je weiter man sich
der Gegenwart nähert.
Im 17. (vielleicht auch schon im 16.?) Jahrhundert
kam, wohl in protestantischen Kreisen, neben „Gesegnete
Mahlzeit!" auch „Prosit die Mahlzeit!" auf, das dann
zu „Prost Mahlzeit!" (in meiner niederhessischen Heimat
noch heute „Proste Mahlzeit!") verkürzt wurde und nun
rasch der scherzhaften, ironischen Anwendung anheim
fiel: vgl. z. B. „Pros't Mahlzeit! da fällt das Ganze
gleich!" (Wallensteins Lager v. 765). Wieder ein Beleg,
wieviel rascher der fremdsprachliche Ausdruck entadelt
wird gegenüber dem altheimischen.
Dies „Prosit (die) Mahlzeit!" ist nun aber ein deut
licher Hinweis darauf: 1. daß „gesegnete Mahlzeit!"
schon vorhanden war, und 2. wie man es damals ge
deutet hat, als man die lateinische Übersetzung daneben
stellte: offenbar doch als „Gesegnet sei die Mahlzeit!"
— Und ich wette, die meisten meiner Leser werden hier
einfallen und sagen: „Na, natürlich! Was soll es denn
anders heißen?!"
So habe auch ich bis vor wenigen Jahren gedacht,
als mir eines Tages auffiel, daß dieser Gebrauch des
Partizipiums der Vergangenheit in Gruß und Ausruf
denn doch etwa sei, was in der deutschen Sprache ohne
Beispiel dastehe — nämlich vor allem, wenn man sich
den Wunsch vor Beginn der Mahlzeit ausgesprochen
denkt. Man kann wohl einem zu Abend eine „wohlzu
schlafende Nacht" wünschen, vielleicht auch am Morgen
eine „wohlgeschlafene Nacht", aber man könnte dies un
möglich in die Grußformel kleiden „Wohlgeschlafene
Nacht!" — weder vorher noch nachher. Niemand wird
einem Sieger „Gewonnener Sieg!" oder einem wohl-
gcprüften Kandidaten „Bestandenes Eramen!" zurufen.
Dies Partipium ist für den deutschen Sprachgebrauch
undenkbar — lateinisch wäre es allenfalls möglich, und
so habe ich anfangs geglaubt, es könnte vielleicht ein
„Benedicta coena!" der Klostersprache zugrunde liegen.
Ich kam davon ab und geriet auf den richtigen Weg,
indem ich die Vermutung aufstellte, daß unser „Gesegnete
Mahlzeit!" gekürzt und entstellt sei aus „Gott segne die
Mahlzeit!" Dann wäre das Ge- der letzte Nest des
durch seine dauernde Unbetontheit dem Untergang ge
weihten Gott — der weitere Weg von segne die — über:
segne de — zu: (ge-)segnete bedürfte keiner Begründung
oder Erklärung.
Nun ergab aber die Prüfung zahlreicher Segensfor
meln, mit denen ich mich hier nicht aufhalten will, daß
in ihnen nicht sowohl das Simpler „segnen" als vielmehr
das perfektive Kompositum „gesegnen" seinen festen Platz
hat. Einer um Weihnachten 1545 zu Stralsund ruchbar
gewordenen Wiedertäufer-Sekte warf man u. A. vor,
daß sie bei Tische nicht sprächen: „Gott gesegene ju!"
sondern „Got nere di!" (Ioh. Berckmanns Stralsund.
Chronik edd. Mohnike-Zober S. 93). Und somit wird auch
die ursprüngliche Fassung des alten Tischsegens gelautet
haben:
„Got gesegene die malzi t!"
Es lebt mithin in dem Anlaut unserer heutigen, und
damit der literarisch (soviel ich sehe) allein bezeugten,
Formel nicht etwa das verstümmelte „Got" fort. Dies ist
vielmehr vollständig beseitigt, und mit dem Schwinden
des Subjekts hat sich ein subjektsloser Satz ergeben: „ge-
segcn die malzit" („gesegene de malzit"), die nunmehr,
in der gebildeten Sprache, eine Form annahm, die sich
das Sprachgefühl der Gebildeten vielleicht nach dem
Muster „Benedicta (sit) coena!" zurechtlegte.
Ich habe bisher die Frage nicht beantwortet, ja sie
kaum aufgeworfen: Wohin gehört zeitlich unser Segens
wunsch? Heute herrscht in diesem Punkte vielfach Unsicher
heit: man kann ihn vor Beginn oder nach Schluß der
Mahlzeit hören — wohl auch beidemal. Es unterliegt
aber keinem Zweifel, daß zu einer Zeit und für eine
Gesellschaft, welche das Tischgebet vor der Mahlzeit, das
ja mit dem Danke die Bitte um den göttlichen Segen zu
verbinden pflegte, selbstverständlich war, der knappe Se
genswunsch an den Schluß gehörte. Und damit erklärt
sich auch am ehesten, wie überhaupt die Kürzung, so na
mentlich die Wandlung des Konjunktivs der Gegenwart:
„Gott gesegene die Mahlzeit" in das Partizipium der
Vergangenheit: „Gesegnete Mahlzeit!"
Der Fachmann wird leicht einsehen, daß sich diese
meine Erklärung gut eingliedert in die lange Kette der
Erscheinungen, welche W. Horn zu seinem reichhaltigen
Buche „Sprachkörper und Sprachfunktion" (1921, 2. Ausl.
1923) zusammengefügt hat. Er hat S. 18 auch flüchtig
die „bedeutungsarmen Grußformeln" behandelt, „deren
Wortkörper verringert wird, weil sein Umfang nicht im
Einklang steht mit seinem geringen Bedeutungsinhalt".
Dieses Aufsätzchen ist der im Eingang gekürzte, am
Schluß erweiterte Wiederabdruck eines Beitrags zu der
Festschrift des Wiener Akademischen Germanistenvereins
(„Germanische Forschungen", Wien 1925), der gewiß
keinem unserer Leser zu Gesicht gekommen ist.