89
rastloses Weiterarbeiten auf der einmal für rich
tig erkannten Linie, die, völlig ungebrochen, durch
das gewaltige Schrifttum fich hindurchzieht. Aber
freilich: das oben erwähnte, 1855 abgeschlossene
Hauptwerk erscheint anonym,offenbar, weil sein
Verfasser, getäuscht in berechtigten Erwartungen,
keine Wirkung mehr von einem namentlich ge
zeichneten Buche erwartet!
Wie ist es gekommen, daß ein früh ins wissen
schaftliche Leben eingetretener Autor, der auch alle
erreichbaren wissenschaftlichen Stufen erklomm
und dessen Erstlingsarbeiten mit großer Zustim
mung begrüßt worden waren, in solchem Maße
resignierte, ja fast vor der öffentlichen Meinung
zurückwich? Vielleicht gibt ein Blick auf die
Zeit und, vor allem, auf die in der Zeit vor
herrschende wissenschaftliche und politische Rich
tung Antwort.
II.
Es war der Vormärz; von der französischen
Revolution war ein ungeheurer Anstoß gekom
men; französische Ideen, Gesetze und Verwaltungs
normen hatten fich zumal im Westen Deutsch
lands, und gewiß auch im Hefsenlande (wenn hier
auch längst nicht so wie im Südwesten) geltend
gemacht. Ein sehr großer Teil der staats- und
rechtswissenschaftlichen Forscher der Zeit unterlag
jenen Ideen und Zielen. Die Internationale,
der Glaube an Humanität und Weltbürgertum,
an die (um mit Vollgraff zu sprechen) „unbe
dingte Perfektibilität des Menschengeschlechts"
hatten breite Schichten auch der Gelehrten er
obert. Demokratie, Parlamentarismus, Verfas-
snngsrechte des Volks standen im Vordergrund.
Das berühmte Staatslexikon der Zeit, Rotteck-
Welcker, faßte diese Strömungen (wie Treitschke
betont) zusammen, v. Rottecks „Vernunftrecht"
kam dem rational-intellektuellen Streben ent
gegen. Wir find nicht geneigt, gewisse große Ein
zelleistungen, bei denen der nationale Gedanke mit
schwang und fich trotz aller internationalen Be
geisterung durchzusetzen wußte, hintanzustellen;
aber günstigstenfalls war und blieb eö doch Theo
rie, die man dem Volk und den Staatsmännern
bot, und an dieser bloßen Theorie krankte das
Parlament der Paulökirche nicht weniger wie die
Praxis der deutschen Einzelstaaten. (Diese „theo
retischen Politiker und politischen Theoretiker" hat
gerade Vollgraff scharf abgelehnt.) Vor allem
aber: die StaatSwifsenschaften erschöpften fich fast
ganz in der Lehre vom Staat, das Volk
wurde nur von Wenigen beachtet; daß man von
„Raffe" um so weniger wissen wollte, war
selbstverständlich; wenn nun ein junger Autor,
eben Vollgraff, schon in seinen frühen Werken
die Rasse geradezu in den Mittelpunkt seines
Systems stellte: dann war es doch nicht nur die
viel zu weit getriebene „Systematik" und die im
ganzen nicht glückliche Titelgebung, die ihm —
von den allerersten Schriften abgesehen — miß
günstige Kritik und Nichtnennung zuzog: dann
muß eö doch wohl die als verfehlt erachtete Aus
gangsstellung seines Schrifttums gewesen sein,
welche die Ablehnung durch die Zeitgenossen be
gründete. Er galt als Außenseiter, als Einspän
ner; schließlich mußte man seine Gelehrsamkeit,
sein ehrliches Ringen um das, was er als wahr
erkannt hatte, gelten lasten; aber eg erschien der
Kritik bequemer, fich hinter die „Dunkelheit" sei
ner Werke, hinter seinem „Schematismus" und
einem in der Tat sehr eigentümlichen Stil zu ver
schanzen, als seine Grundauffafsungen offen zu
bekämpfen. Selbst der bedeutendste Geschichts
schreiber der StaatSwifsenschaften jener Zeit, Ro
bert v. Mohl, ist von einer gewissen Oberflächlich
keit seines Urteils iiber Vollgraff nicht ganz frei
zusprechen.
Noch eine zweite Richtung kannte die staats-
wistenschaftliche Forschung der Zeit: die Ro
mantik war, nachdem sie sich Literatur und
Kunst fast völlig unterworfen hatte, auch in die
Lehre vom Staat eingedrungen. Ihrem Wesen
nach hätte sie an Volk und Rasse nicht so vorbei
gehen können, wie es die unter revolutionärer oder
doch demokratischer Einwirkung stehende Haupt