Dorf heran, dann war zu entscheiden, ob man so
gar diese vorhandene dörfliche Niederlassung auch
eine Wüstung nennen sollte. Ähnlich liegen die
Dinge auch in den Fällen, wo durch die Zerstörung
eines Dorfes durch Krieg, Brand oder Seuchen
Jahre und Jahrzehnte bis zu seinem Wiederauf
bau vergehen konnten.
Man suchte diesen Einwänden dadurch zu be
gegnen, daß man einmal die „Verwüstungen"
durch Kriege, Fehden und ähnliche menschliche
Willkürakte als unwesentlich im Hinblick auf die
Gesamtheit der Wüstungen bezeichnete, da dadurch
nur ein vorübergehendes Wüstliegen der Sied
lungen verursacht wurde. Weiterhin erklärte man,
daß durch das Zusammenschrumpfen eines Dorfes
der „Verlust des Dorfcharakters" bedingt und daß
in dieser Tatsache überhaupt das kennzeichnende
Merkmal für die Anwendung der Wüstungsbe
zeichnung gegeben sei. Die Vuellenbetrachtung
läßt uns aber an einer Reihe von nachweisbaren
Fällen erkennen, daß auch dieses Kriterium nicht
entscheidend ist. Es werden dort auch Dörfer als
wüst genannt, wenn nur ein Teil der Hofstellen
von ihren Bewohnern aufgegeben worden ist; es ist
dabei sowohl von „wüsten Höfen" in geschloffen
vorhandenen Dorfverbänden wie auch von „wüsten
Häusern" in den Städten die Rede. Das Ver
schwinden des TLohnplaßes ist also nur eine zwar
charakteristische und die augenfälligste, aber keine
notwendige Erscheinung des Vvüstungsvorganges.
Diese auf Grund unmittelbarer Omellemmter-
suchungen gewonnenen Ergebnisse zeigen, daß sich
eine wissenschaftliche Wüstungsforschung nicht ein
fach auf die Endzustände eines zeitlichen Vorgangs
beschränken kann, ohne daß man diesen „Wüstungs
vorgang" selbst einer eingehenden Betrachtung
unterzieht. Die sich daraus ergebende Feststellung,
daß der Wüstungsvorgang des ausgehenden Mit
telalters im wesentlichen in einer bloßen Ver
legung der bäuerlichen Wirtschaftsgebäude an eine
andere Stelle unter Beibehaltung der alten Wirt
schaftsfläche bestanden hat, offenbarte aber mit
aller Deutlichkeit den relativen Charakter und die
ünhaltbarkeit eines Wüstungsbegriffes, der als
Wesensmerkmal das völlige oder teilweise „Vom-
Erdboden-verschwnnden-sein" menschlicher Sied
lungen herausstellte. Schon Landau hatte im
Hinblick auf diese „Umsiedlungen" und „Über
siedlungen" Zweifel an dem Wnstungscharakter
der verlegten Wohnplätze geäußert 7 ). Es ent-
ftefyt auch mit Recht die Frage, was denn nun
eigentlich durch einen solchen Vorgang wüst ge-
7) Landau, G. Wüstungen S. Zgl.
worden war. Die Siedlung als geschlossener Ver
band war geblieben, in ihrer Wirtschaft und Ver
fassung, wie Lappe nachgewiesen hatH, keine
Änderung eingetreten. Eine solche Feststellung
scheint zunächst alle unsere bisherigen Vorstellun-
gen auf den Kopf zu stellen.
Die Auslegung, die man ganz allgemein der
Bezeichnung wüst gibt, versteht darunter immer
etwas Chaotisches und Ungeordnetes, eine physto-
gnomische Ausdrucksweise, wie sie z. B. als „wüste
Gegend" gebraucht wird H. Diese Auffassung be
einflußt die gesamtem Vorstellungen von den
Wüstungserscheinnngen, und eö sind nur wenige
Versuche unternommen worden, die quellenmäßige
Ausdrucksweise auf ihren Begriffsinhalt näher zu
untersuchen, um auf dieser Grundlage eine ivis-
senschaftliche Begriffsbildnng aufzubauen. Wenn
wir unter „Siedlung", wie bereits oben gesagt,
Wohnplaß und Wirtschaftöfläche zu einer Einheit
zusammenfassen, dann muß man folgerichtig auch
bei dem Begriff „Brüstung" beide Komponenten
unterscheiden. Aus dem urkundlichen Vnellen-
material hat sich denn auch ergeben, daß die
Wüstungserscheinungen der Feldflnr, die man bis
her kaum beachtet hat, für die entwicklnngsge-
schichtliche Deutung der Wüstungen von größter
Bedeutung sind. Nicht von dem ehemaligen
Wohnplaß der Siedlung sondern von ihrer Feld-
flur her sind die mittelalterlichen Bezeichnungen
Wüstung, wüst und ähnliche Benennungen zu ver
stehen. Der bestellte und bebaute Grund und
Boden bildete das eigentliche Kapital der Grund-
Herren und ihm galt ihr Hauptinteresse. Wird
nun aber zu einem Zeitpunkt eine Siedlung quel
lenmäßig als wüst aufgeführt, so ist der Schluß,
daß damals die Acker einer solchen Siedlung un
bestellt und außer jeder Kultur und daß die zu
gehörigen Hofstellen verschwunden waren — also
alles „wüst und leer" war — noch keineswegs mit
absoluter Sicherheit berechtigt. Die als wüst ge
nannten Güter waren vielfach garnicht unbestellt,
wie die Tatsache zeigt, daß oft Zins von ihnen ge- 8 9
8) Lappe, I. Die Ncchtsgeschichte der wüsten
Marken. Einleitung zu: Die Wüstungen der Provinz
Westfalen. Leröff. d. Hist. Koni. f. d. Proo. West
falen. Münster 1916.
9) Vgl. z. B. Walther, H. Mit den Flurna-
nien zurück in die Vergangenheit. Grimniaer Pflege III
(1924) Nr. 8 . u. 9: „Für gewöhnlich pflegte man
Fluß- und Bachläufe, sodaß es auffallen mußte, wenn
ein Lauf verwildert (Sperrung d. Verf.) war.
Während der Streitigkeiten um die Fischereigerechtig-
kcit an der Mündung der Förtger Bach, gerieten Bach
und Bachlanf in schlechte» Zustand, sodaß inan ihn nicht
besser als mit dem Namen „Das wüste Wasser" zu
bezeichnen wußte".
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