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seren Direktor der Kurhessischen Staatsbahn, der 1850
Assessor in Kassel war und in jenem Briefe die Ver
hältnisse im Januar 1851 schildert, wie sie sich seit der
Bequartierung der Häupter der liberalen Opposition
durch die Strafbayern ergaben. Es war ein lebendiges
Bild der politisch sehr erregten Zeit.
Dann sprach Volkswirt Bruno Jacob zur Ge
schichte des Kasseler Patriziats über die Familie
Sydenschwanz. Was sie besonders interessant
macht, ist der Umstand, daß sie zu den am frühesten vor
kommenden Ratsfamilien zählt und dennoch die Kata
strophe von 1391 überstand. Sie stammt möglicher
weise aus der Gegend von Gudensberg, doch ist Siche
res nicht zu sagen, wie denn überhaupt die Kasseler
Patriziatsgeschichte reichlich lückenhaft ist und vieles nur
vermutet werden kann. Oer älteste Sproß ist Ludwig
Sydenschwanz; dann setzt das Geschlecht durch fünf
Generationen in der Hauptlinie fort. Oer zweite die
ser Reihe war Siegelbewahrer des Stadtrats nud in
einen Prozeß verwickelt, der uns vermuten läßt, daß
er Fruchthandel betrieb; der dritte des Geschlechts war
Bürgermeister von Kassel und ist durch sein Testament
zu Gunsten des Nikolausaltares in der Cyriakus-Kirche
als ein reicher Kaufmann ausgewiesen. Sein Enkel
Johannes gehörte gerade in der Krisenzeit (iZgo und
1396) dem Kasseler Rate an; sein Sohn war der Eidam
von Heinrich von Hundelshausen, der dem Landgrafen
Hermann sehr nahe stand, was wohl auch die politische
Stellung der Familie Sydenschwanz bestimmte.
Daneben laufen noch weitere Familienmitglieder her,
so wohl ein Bruder Ludwigs, der zuerst in Kassel nach
gewiesen ist, in zweiter Ehe aber nach Fritzlar heiratete
und seine beiden Töchter aus dieser mit dem Gute der
Mutter ausstattete, als sie ins Ahneburger Kloster
gingen. Der Nachlaß von seinem Sohne Heinrich gibt
uns auch Gelegenheit, Grundbesitz der Sydenschwänze
zu Kassel zu bestimmen: am Möncheberg wohl auf dem
Gelände der Gastwirtschaft „Bunter Bock". Andere
jüngere Sprossen des Geschlechtes sind Geistliche in
Kassel, ihr Besitz zu Wolfganger und klmbach gibt An
haltspunkte zur Ortsgeschichte und verbindet sie mit
andern Patriziatsgeschlechtern, die wahrscheinlich mit den
Familien verschwägert waren. Oer letzte dieser Kleriker
ist Kanonikus zu St. Martin; in der Hauptlinie aber
erlischt dag Geschlecht im iZ. Jahrhundert und sein
Grundbesitz geht an die Adelsfamilie 0. Hebel über.
Zum Schlüsse sprach Zolldirektor Worin
ger über den irrig als Metzger bezeichneten Valen
tin M u h l y aus Ziegenhain, der in dem Gefecht von
Riebelsdorf (13. November 16^0) den kaiserlichen
General von Bredow erschossen haben soll, der aber
nicht Metzger, sondern landgräflicher Offizier gewesen
und von 1599 bis 1656 als solcher ausgewiesen ist.
Wie er eigentlich in den Ruf kam, Metzger gewesen zu
sein, ist noch völlig unklar. Nach dem Beifall der Ver
sammelten schloß der Vorsitzende dann den inhaltsreichen
Abend. —c.—
Vor den in der kulturellen Arbeitsgemeinschaft ver
einigten Organisationen, denen auch der Geschichtsver
ein angehört, sprach am Montag, dem 23. dg. Mts.
Dr. Friedrich Ooldinger über den gotischen
Kirchenbau. Oer Vorsitzende des Vereins Heimatschutz,
dkr diesmal in den Vortraggsaal des Hessischen Landes-
museums geladen hatte, begrüßte die Anwesenden,
worauf Vortragender begann.
Ausgehend von einem Worte von Auguste Ro
din, daß man die Kunst der Gotik nicht restaurieren,
sondern weiterbilden solle, zeichnete er die Wege, dw
der Geist genommen hatte, namentlich über Goethe und
Boisseree zur Erkenntnis des Geistes, der in der Gotik
wirkt. Er zeichnete weiter die geistigen und seelischen
Hintergründe, auf denen sich die Entwicklung vollzog,
namentlich die Einflüsse des Orients, der Kreuzzüge und
der in jener Zeit entstandenen Orden, die allesamt an
Vorbilder des vorchristlichen Orients schon anlehnten,
wie z. B. der Orden der Templer an den Tempel Sa-
lomonis. Gerade auch für die Stellung jenes Bau
werkes zu dem geistigen Gehalte der Gotik suchte Vor
tragender Belege und Zusammenhänge aus der geistigen
Atmosphäre der verschiedenen Epochen und Kulturkreise
beizubringen, so, wenn er in dem Werke Salomonis
einen Zusammenhang von Mikrokosmos und Makro
kosmos sah, verkörpert in der Antike durch Ägypten
und Phönizien. — Weiter führte Ooldinger ein in die
statischen Elemente der gotischen Baukunst, zeigte, wie
die Wände aufhören, tragende Funktionen zu erfüllen,
die nun mehr und mehr auf die Pfeiler übergehen,
während die Wandflächen durch breite Fensteröffnungen
aufgelöst werden können, wie dann aber auch die Pfeiler
sich aus der starren Masse in Pfeilerbündel auflösen,
ja, in einzelnen Fällen sogar in Figuren aufgelöst wer
den können. Dazu dann die veränderte Technik der Ge
wölbekappen, bei denen in der Gotik die Rippen des
Gewölbes tragen und sich gegenseitig stützen. Anhand
vieler Lichtbilder wurde dies dargetan, dann folgte eine
Betrachtung über die Chorbildung und die sich ihm an
legenden Seitenkapellen, die den Umgang auflösen. Über
haupt zeigte er, wieviel mathematische Mystik in der
Gotik lebt und wirkt, wie die Ausmaße der Cheops
pyramide sich wiederfinden in den Ausmaßen des Straß
burger Münsters, wie der Kreis und der sechsmalige Ab
trag seines Radius auf ihn sich dann weiter auswirkt
in der Gestaltung des gotischen Planes, des gotischen
Ornaments, wie die einzelnen Bauwerke aufgebaut sind
auf der Vierzahl des Ouadrats, der Dreizahl des Drei
ecks und wie beide mathematische Formen sich vereinigen
mit dem Kreis, der auch wieder seine eigenartige Sym
bolik hat. Alle diese Elemente wirkten sich unter den
Bauhütten des Mittelalters aus, deren Geheinmisie aus
uralter Überlieferung und Mystik stammten, die sich
aber verloren, seit im IZ. Jahrhundert die Organisa
tion der Werkleute die alten Traditionen überwucherte.
Nachdem Ooldinger dann die Wirkung der verschie
denartigen Baugestaltungen der Gotik noch gezeigt
hatte, ging er ein auf die Stellung des gotischen Domes
inmitten der Stadt, der Burg. Hier war der Mensch
zusammengedrängt als Maste auf engem Raum, der
Natur entfremdet, in der noch der Mensch der vorauf
gehenden Zeit gelebt, in die er die Münster der Romantik
gestellt. Dafür einen Ausgleich zu schaffen durch jene
Dome, die aus der Enge der Stadt gen Himmel streb
ten, war die Gotik berufen, und nur, zeigte das ganz be
sonders die Gestaltung des Turmes des Freiburger
Münsters, dessen Spitze sich in Licht aufzulösen jcheint.
Auch wollte Vortragender die Dämonen des Glaubens
jener Tage wiederfinden gebannt in die Wasserspeier der
Dome. Anfang und Ende der Lichtbilderreihe bezeich
neten die beiden Statuen, Kirche und Synagoge, vom
Münster zu Straßburg. Sie umschließen gewisser
maßen die Geheimnisse der gotischen Form, ihres Geistes,
des Geistes, aus dem die Gotik geboren wurde, ünd
mit der frohen Hoffnung, daß aus dem mechanisierten
Chaos unserer Tage sich auch wieder der Geist neu er
heben werde und überzeitlich dokumentieren, entließ Vor
tragender das durch reichen Beifall dankende Publikum.
LILU —C—