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den glücklich hinauskomplimentierten „aktuellen
Zeitgeist" mit allerhand Szenerie- und Regie-
Mätzchen wieder einschmuggeln, verdarb sich aber
nur selber Konzept, Stil und Wirkung. Ein lang
gehegter Wunsch ist mit der gänzlichen Neuaus-
stattung und künstlerischen Durcharbeitung von
Wagners „Ring des Nibelungen" erfüllt, von
dem bisher die beiden ersten Abende „Rheingold"
und „Walküre" Ln eindrucksvoller Wiedergabe
herausgebracht wurden. ^Webers unsterblicher
Freischütz, vor Jahren langweilig rationalistisch
Ludtvlg (Ichüler (In memoriam)
Oberbürgermeister von Marburg,
geb. 6. i. 1836 in Kassel, gest. 31. 3. 1930
in Marburg.
Ich hatte ihn lange nicht gesehn, den alten
Oberbürgermeister, und nun sollte ich ihn zeichnen.
Sein Neffe und ich traten in sein Zimmer, in dem
er an einem quer vor das Fenster gestellten kleinen
Tisch ohne Brille schreibend saß, uns den Rücken
zukehrend. Sowie er uns gewahrte, erhob er sich
nnd reichte uns mit lebhaften freundlichen Augen
beide Hände zur Begrüßung. Was! dieser unter
setzte, breitschultrige Mann mit dem rosigen, nicht
im geringsten runzeligen Gesicht wäre 94 Jahre
vernüchtert, wurde wieder mit dem Zauber böh
mischer Tracht und altdeutschen Schloßmilieus
nnd mit dem gespenstischen Naturspük gruseliger
Wolfsschlucht-Geheimnisse umgeben. Endlich der
so unhistorische und doch so treuherzige „Zar und
Zimmermann", hübsch holländisch aufgezogen,
zeigte, daß man Lortzing auch heute in der Fratzen-
haftigkeit eines betriebsamen Theaterjahrmarktes
nicht entbehren kann, diesen glücklichen Genius des
oeutschen Volkes, der mit ihm in einem Augenblick
weinen und lachen konnte.
Von Karl Doerbecker.
alt? Niemand würde es geglaubt haben; und noch
weniger, als seine tiefe kräftige Stimme ertönte,
die er wohl seiner Schwerhörigkeit wegen (übrigens
der einzigen Altersbeschwerde) unwillkürlich ver
stärkte: „Ja, wenn man so Geburtstag gehabt hat,
muß man doch alle Glückwünsche beantworten.
Vierzig habe ich schon geschrieben." Diese Äuße
rung war charakteristisch für den Kern seines We
sens: Pflichtbewußtsein. Er hat es sein ganzes Le
ben lang bewahrt, es hat ihm die ungewöhnliche
Arbeitskraft verliehen, ihn immer das Allgemein-
rvohl über persönliches stellen lasten. Denkwürdig
ist sein umfassendes Schreiben auf den Glück
wunsch der Stadt Marburg gelegentlich seines
90. Geburtstages, in dem er bescheiden von dem
spricht, was er geleistet und was zu tun ihm am
Herzen gelegen, aber auszuführen nicht mehr ver
gönnt gewesen sei.
Sein mühevolles, vielseitiges Amt verwaltete er
»nit wenigen Leuten, von denen er allerdings ganze
Einsetzung ihrer Kraft verlangte, wie er es in vor
bildlicher Weife tat, immer Anerkennung für gute
Leistung bekundend. Nichts war ihm verhaßter als
Schein und Phrase, wie ich aus der mit seinem
Neffen geführten Unterhaltung entnahm, soweit
mir das Zeichnen überhaupt Zeit ließ, dem oft mit
Humor und Naturalismus gewürzten Gespräch zu
lauschen. War da einmal ein Beigeordneter, der
sich bedeutend vorkam (ein „Geschaftlhuber", wie
man ihn in Süddeutschland genannt haben würde),
der ihm einen Entwurf für eine Gasanstalt mit
dem schriftlichen Vermerk übermittelt hatte:
„Nachts 4 Uhr entstanden", worauf er bemerkte:
„Er hätte bester getan und geschlafen!" So konnte
der alte Herr noch jetzt sehr deutlich werden; an
den Schluß einer Kennzeichnung setzte er: „der
Schafskopp". Ist es nicht köstlich, mit 94 Jahren
noch solcher Empörung fähig zu sein, wie über
haupt noch eine eigne Meinung über Dinge und