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bis 25. Lebensjahre fielen die meisten ihrer
Bücheranschaffungen aus der deutschen Litera
tur, später hatte sie fast nur noch englische und
spanische Bücher hinzu erworben. So besaß
sie auch nur die im Jahre 1819 abgeschlossene
zwanzigbändige Goethe-Ausgabe: nicht nur
den zweiten Teil des Faust, auch den West-
Oestlichen Divan und die Italienische Reise
habe ich ihr erst verschaffen müssen.
Für mich aber bestand nun gerade ein be
sonderer Reiz darin, daß sie in einer so frühen
literarischen Periode zu Hause war. Ja, im
Grunde wurzelte sie noch im Rationalismus
des 18. Jahrhunderts. Vieles von Goethe,
dann die ganze Romantik erschien ihr wie eine
Verirrung, aus der wieder Leute wie die Brü
der Grimm (die ihr aber auch nicht ganz un
verdächtig waren), Rückert und Uhland empor
stiegen. Was sie von den Ausläufern der Ro
mantik in Kassel erlebt und gesehen hatte:
Otto von der Molsburg und den Kreis der
Frau von Hohenhausen geb. v. Ochs hatte
seiner Zeit ihren Spott herausgefordert, und
dabei blieb sie im Alter. Sie hatte auch
früh für gelehrte Fragen interessiert, und ich
fand sie nicht abgeneigt, dem Professor Rühs
aus Berlin, mit dem sie sich eingehend unter
halten hatte, gegen die Grimms Recht zu
geben: der hat nämlich (im Jahre 1812!)
in einem besonderen Buche das Alter und den
Wert der Edda bestritten.
Run würde ich gern aus den vielen inter
essanten Begegnungen und den von anderer
Seite ihr zugekommenen Anekdoten, die mir
Emilie erzählt hat, allerlei hier mitteilen, aber
indem ich sie neuerdings überprüft habe, kam
mir ein doppeltes Bedenken.
Einmal hab ich damals nichts aufgeschrieben,
und vieles von dem, was mich heute fesseln
würde, hab ich in begreiflicher Achtlosigkeit an
mir vorübergleiten lassen. Dann aber war
auch das Gedächtnis der alten Dame, so an
schaulich es schien, und so unzweifelhaft ihre
Wahrheitsliebe war, nicht ohne Trübungen:
vor allem in den zeitlichen und in den Al
tersangaben hab ich nachträglich allerlei Ver
schiebungen feststellen müssen.
So ermahnte sie mich, in dem sie den wer
denden Germanisten entdeckte, doch ja ins
Theater zu gehen, wenn einmal wieder das
harmlose Lustspiel „Einer muß heiraten!" von
Alexander Wilhelm! aufgeführt würde: Ja
cob Grimm selbst habe sich bei der Aufführung
vor Lachen geschüttelt. Ich hatte das so in
Erinnerung, als sei es bei der Erstaufführung
im Kasseler Hoftheater gewesen, und als habe
sie selbst in seiner Nähe gesessen. Beides aber
kann unmöglich stimmen: denn, wie Paul Hei
delbach in freundlicher Hilfe festgestellt hat, ist
das Stück (das überhaupt erst 1850 erschienen
ist) zum erstenmal am 17. Oktober 1850 in
Kassel aufgeführt worden. Die Brüder Grimm,
die hier bekanntlich als die Universitätsprofes-
soren Jacob und Wilhelm Zorn auftreten, kön
nen es also nur allenfalls in Berlin gesehen
haben.
Auch das folgende Geschichtchen von Jacob
Grimm trägt zwar den Anschein von innerer
Wahrscheinlichkeit (noch in alten Tagen hat
der Gelehrte durch arglose Scherze mehrfach in
der Gesellschaft Anstoß erregt) läßt sich aber
ebensowenig auf Zeit und Person festlegen. Bei
einem Spaziergang in der Aue, im Spätsom
mer, wo die silbernen Fäden in der Luft
schweben, begegnete Jacob einem ältlichen,
aber erst seit kurzem verheirateten Ehepaar
und rief dem ihm bekannten Herrn zu: „Guten
Tag! — Ra, Altweibersommer genießen?" Der
Angeredete nahm das sehr übel und hat auch
später keine harmlose Deutung zugelassen. „Es
war der alte Hofrat Harnier, der eine
Witwe geheiratet hatte!" — so schloß Fräulein
Strubberg die Geschichte. Aber Richard Har
nier, übrigens ein guter Freund der Brü
der Grimm, hat seine Frau, eine geborene
Rumann, jedenfalls nicht als Witwe geheira
tet; ob überhaupt erst in späten Jahren, weiß
vielleicht einer der Leser zu sagen.
Die Zahl der interessanten und bedeutenden
Persönlichkeiten, mit denen Emilie Strubberg
in der ersten Hälfte ihres Lebens zusammen
gekommen ist, erscheint beträchtlich. Zum Teil
hatte sie solche auf ihren Reisen aufgesucht,
wie das ja in damaligen Zeiten Brauch war.
Zwar zum alten Goethe in Weimar vorzudrin
gen, hatte sie sich gescheut, aber bei Friedrich
Rückert hatte sie auf seinem Landsitz in Reu-
seß bei Eoburg einen höchst angeregten
Abend zugebracht — Ludwig Uhland in Tü
bingen dagegen hatte sie offenbar kürzer ab
gefertigt: „er war kurzangebunden, und er
langweilte mich, wie er sich offenbar selbst durch
den Besuch weniger geehrt als belästigt fühlte."
Den Mittelpunkt ihres persönlichen Er
lebens bildete gleichwohl die Vaterstadt: ja es
konzentrierte sich geradezu auf den engen
Raum, der von dem väterlichen Hause am
Friedrichsplatz bis zum Hoftheater reichte.
Daß sie sich zu dem halbwüchsigen Jungen