Full text: Hessenland (40.1928)

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bis 25. Lebensjahre fielen die meisten ihrer 
Bücheranschaffungen aus der deutschen Litera 
tur, später hatte sie fast nur noch englische und 
spanische Bücher hinzu erworben. So besaß 
sie auch nur die im Jahre 1819 abgeschlossene 
zwanzigbändige Goethe-Ausgabe: nicht nur 
den zweiten Teil des Faust, auch den West- 
Oestlichen Divan und die Italienische Reise 
habe ich ihr erst verschaffen müssen. 
Für mich aber bestand nun gerade ein be 
sonderer Reiz darin, daß sie in einer so frühen 
literarischen Periode zu Hause war. Ja, im 
Grunde wurzelte sie noch im Rationalismus 
des 18. Jahrhunderts. Vieles von Goethe, 
dann die ganze Romantik erschien ihr wie eine 
Verirrung, aus der wieder Leute wie die Brü 
der Grimm (die ihr aber auch nicht ganz un 
verdächtig waren), Rückert und Uhland empor 
stiegen. Was sie von den Ausläufern der Ro 
mantik in Kassel erlebt und gesehen hatte: 
Otto von der Molsburg und den Kreis der 
Frau von Hohenhausen geb. v. Ochs hatte 
seiner Zeit ihren Spott herausgefordert, und 
dabei blieb sie im Alter. Sie hatte auch 
früh für gelehrte Fragen interessiert, und ich 
fand sie nicht abgeneigt, dem Professor Rühs 
aus Berlin, mit dem sie sich eingehend unter 
halten hatte, gegen die Grimms Recht zu 
geben: der hat nämlich (im Jahre 1812!) 
in einem besonderen Buche das Alter und den 
Wert der Edda bestritten. 
Run würde ich gern aus den vielen inter 
essanten Begegnungen und den von anderer 
Seite ihr zugekommenen Anekdoten, die mir 
Emilie erzählt hat, allerlei hier mitteilen, aber 
indem ich sie neuerdings überprüft habe, kam 
mir ein doppeltes Bedenken. 
Einmal hab ich damals nichts aufgeschrieben, 
und vieles von dem, was mich heute fesseln 
würde, hab ich in begreiflicher Achtlosigkeit an 
mir vorübergleiten lassen. Dann aber war 
auch das Gedächtnis der alten Dame, so an 
schaulich es schien, und so unzweifelhaft ihre 
Wahrheitsliebe war, nicht ohne Trübungen: 
vor allem in den zeitlichen und in den Al 
tersangaben hab ich nachträglich allerlei Ver 
schiebungen feststellen müssen. 
So ermahnte sie mich, in dem sie den wer 
denden Germanisten entdeckte, doch ja ins 
Theater zu gehen, wenn einmal wieder das 
harmlose Lustspiel „Einer muß heiraten!" von 
Alexander Wilhelm! aufgeführt würde: Ja 
cob Grimm selbst habe sich bei der Aufführung 
vor Lachen geschüttelt. Ich hatte das so in 
Erinnerung, als sei es bei der Erstaufführung 
im Kasseler Hoftheater gewesen, und als habe 
sie selbst in seiner Nähe gesessen. Beides aber 
kann unmöglich stimmen: denn, wie Paul Hei 
delbach in freundlicher Hilfe festgestellt hat, ist 
das Stück (das überhaupt erst 1850 erschienen 
ist) zum erstenmal am 17. Oktober 1850 in 
Kassel aufgeführt worden. Die Brüder Grimm, 
die hier bekanntlich als die Universitätsprofes- 
soren Jacob und Wilhelm Zorn auftreten, kön 
nen es also nur allenfalls in Berlin gesehen 
haben. 
Auch das folgende Geschichtchen von Jacob 
Grimm trägt zwar den Anschein von innerer 
Wahrscheinlichkeit (noch in alten Tagen hat 
der Gelehrte durch arglose Scherze mehrfach in 
der Gesellschaft Anstoß erregt) läßt sich aber 
ebensowenig auf Zeit und Person festlegen. Bei 
einem Spaziergang in der Aue, im Spätsom 
mer, wo die silbernen Fäden in der Luft 
schweben, begegnete Jacob einem ältlichen, 
aber erst seit kurzem verheirateten Ehepaar 
und rief dem ihm bekannten Herrn zu: „Guten 
Tag! — Ra, Altweibersommer genießen?" Der 
Angeredete nahm das sehr übel und hat auch 
später keine harmlose Deutung zugelassen. „Es 
war der alte Hofrat Harnier, der eine 
Witwe geheiratet hatte!" — so schloß Fräulein 
Strubberg die Geschichte. Aber Richard Har 
nier, übrigens ein guter Freund der Brü 
der Grimm, hat seine Frau, eine geborene 
Rumann, jedenfalls nicht als Witwe geheira 
tet; ob überhaupt erst in späten Jahren, weiß 
vielleicht einer der Leser zu sagen. 
Die Zahl der interessanten und bedeutenden 
Persönlichkeiten, mit denen Emilie Strubberg 
in der ersten Hälfte ihres Lebens zusammen 
gekommen ist, erscheint beträchtlich. Zum Teil 
hatte sie solche auf ihren Reisen aufgesucht, 
wie das ja in damaligen Zeiten Brauch war. 
Zwar zum alten Goethe in Weimar vorzudrin 
gen, hatte sie sich gescheut, aber bei Friedrich 
Rückert hatte sie auf seinem Landsitz in Reu- 
seß bei Eoburg einen höchst angeregten 
Abend zugebracht — Ludwig Uhland in Tü 
bingen dagegen hatte sie offenbar kürzer ab 
gefertigt: „er war kurzangebunden, und er 
langweilte mich, wie er sich offenbar selbst durch 
den Besuch weniger geehrt als belästigt fühlte." 
Den Mittelpunkt ihres persönlichen Er 
lebens bildete gleichwohl die Vaterstadt: ja es 
konzentrierte sich geradezu auf den engen 
Raum, der von dem väterlichen Hause am 
Friedrichsplatz bis zum Hoftheater reichte. 
Daß sie sich zu dem halbwüchsigen Jungen
	        

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