54
„Sieh, wie der Badjing * Atzung sucht
Auf dem Klappabaum. Er steigt auf und ab, hopst links
fund rechts,
Er kreist um den Baum, springt, fällt, klimmt und fällt
fwieder:
Er hat keine Flügel und ist doch hurtig nne ein Vogel.
Viel Glück, mein Badjing, ich wünsch' dir Heil!
Sicher wirst du finden die Atzung, die du suchst . . .
Doch i ch sitze allein bei dem Djatibusch,
Wartend auf Atzung für mein Herz.
Lang' schon ist der kleine Bauch meines Badjing ge-
fsättigt . . .
Lang' schon ist er zurückgekehrt in sein Nestchen . . .
Toch immerdar ist meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt . . . A d i u d a!"
„Sieh, inte der Falter dort rundflattert.
Seine Schwingen prangen tvie eine vielfarbige Blume.
Sein Herz ist verliebt in die Kenarieblüte;
Gewiß sucht er sein wohlriechendes Liebchen.
Biel Glück, mein Falter, ich wünsch' dir Heil;
Sicher wirst du finden, was du suchst . . .
Toch ich sitze allein bei dem Djatibusch,
Wartend auf die, die mein Herz lieb hat.
Lang' schon hat der Falter geküßt
Die Kenarieblumc, die er so lieb hat . . .
Doch immerdar noch ist meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt . . . A d i n d a!"
„Sieh, inte die Sonne leuchtet dort in der Höhe,
Hoch über dem Waringi-Hügel.
Sie fühlt sich zu warm und wünscht niederzusteigen,
Daß sie schlafe in der See, wie im Arm eines Gatten.
Biel'Glück, o Sonne, ich wünsch' dir Heil!
Was du suchst, wirst sicher du finden . . .
Toch ich sitze allein bei dem Djatibusch,
Wartend auf Ruh' für mein Herz.
Lang' schon tvird die Sonne untergegangen sein
Und schlafen in der See, wenn alles dunkel ist . . . H
Und immerdar noch wird meine Seele
Und mein Herz bitter betrübt sein . . . A d i n d a!"
„Wenn nicht länger Falter werden rundflattern,
Wenn nicht die Sterne mehr werden glänzen,
Wenn die Melatti nicht mehr wohlriechend sein tvird,
Wenn da nicht länger Herzen betrübt sind,
Nicht mehr sein wird wildes Getier in dem Wald . . .
Wenn die Sonne verkehrt wird laufen,
Und der Mond vergessen, wo Ost und West ist . . .
Wenn dann Adinda noch nicht gekommen ist,
Tann wird ein Engel mit blinkenden Flügeln
Niederkommen zur Erde, daß er suche, tvas da allein
[blieb.
Tann wird mein Leichnam hier liegen unter dem Ketapan
Meine Seele ist bitter betrübt . . . Adinda!"
„Tann wird mein Leichnam von dem Engel gesehen
fwerden.
Er wird ihn seinen Brüdern mit den Fingern weisen:
„Sehet, dort ist ein gestorb'ner Mensch vergessen,
Sein erstarrter Mund küßt eine Melattiblume.
Kommt, daß tvir ihn aufnehmen und gen Himmel tragen.
Ihn, der Adindas harrte, bis er tot war.
Fürwahr, er darf nicht allein dahier bleiben,
Dessen Herz die Kraft hatte, so zu lieben!"
* Eichhörnchen.
Dann soll noch einmal mein erstarrter Mund sich öffnen,
Um Adinda zu rufen, die mein Herz lieb hat . . .
Noch einmal will ich die Melatti küssen,
Die s i e mir gab . . . Adinda. . . Adinda!"
Das; bei einem derartigen Verkehr Tekkers leicht
entflammbares Gemüt bald lichterloh brannte, ist
leicht zu verstehen, aber auch Ottiliens Herz blieb
nicht unberührt. Wir erfahren, daß sie sich ernst
haft mit dem Gedanken trug, ihre Verlobung aufzu
lösen, wir wissen auch, daß ihre Schwestern die
große Gefahr ihres Umgangs mit Dekker allmählich
erkannten; wir erfahren aus Ottiliens Brief (Brie
den Bd. 5, S. 22), daß sie Dekker Schmerz hat
bereiten müssen, wofür sie ihn noch drei Jahre
später um Verzeihung bittet. Wahrscheinlich hat
eine Aussprache zwischen beiden stattgefunden, in
der sie ihn über ihr Verhältnis zu Katzenstein auf
klärt. Das ergibt sich wohl aus der Erklärung,
die Dekker dem Brief, den er für seine Frau ab
schreibt, beifügte: „Auch die Furcht, daß ich böse
bin, weil sie mir Verdruß bereitet hat. Das war
dieser Roman mit dem Maler."
Dekker hatte einige Monate in Kassel verbracht.
Seine Barschaft ging zur Neige. Er hatte den
Hotelbesitzer nicht regelmäßig bezahlt und auch Be
kannte angepumpt. 21 Er sah sich deshalb mit Hinter
lassung von Schulden genötigt, Kassel zu verlassen.
Er nahm Abschied von Ottilie. Wie schwer ihr
dieser Abschied wurde, ergibt sich aus dem oben
schon erwähnten Brief. Sie bewahrt ein Vergiß
meinnicht, ein zerbrochenes tlhrglas und ein Taschen
tuch, das er am Abend des Abschieds zurückließ,
als heiliges Andenken. Obgleich sie weiß, daß sie
vernünftig gehandelt, indem sie ihrem Verlobten
treu bleibt, ihr Herz hängt noch immer an Dekker.
Er schämte sich aber, daß er auf eine so unwürdige
Weise Kassel verlassen hat, und ließ nichts mehr!
von sich hören. Diese Scham ist um so erklärlicher,
als er in Kassel in den besten Kreisen verkehrt
hatte und sonst die schönsten Erinnerungen an die
landschaftlich so schöne Stadt und Umgebung be-
wahrte. So spricht er in den „Millionenstudien"
(Spohr, Übersetzung, Minden 1903. S. 94) von der
Kasseler Au, der lieblich poetischen Au. Wie sehr
ihn die Tatsache, daß er in Kassel Schulden hinter
lassen hat, quälte, ergibt sich daraus, daß er in
seinen Briefen stets daraus zurückkommt 22 und stets
wieder überlegt, wie er die Schulden bezahlen soll.
Die Herausgeberin teilt Bd. 3 S. 65 mit, daß
Dekker noch Jahre danach, sogar bis an sein Lebens
ende, es bedauert hat, daß er die Hotelschuld und
besonders die Freürtdschaftsschnlden in Kassel nicht
hat begleichen können. Der Hotelbesitzer Schambeck
ließ ihn auch nicht in Ruhe, schrieb sogar an seinen
Bruder. 23 Er fand wieder in der kleinen Wirtschaft
in Brüssel Unterkunft und schrieb dort unter aller
hand Not und Entbehrungen den „Max' Havelaar".
21 Brieven Bd. 3 S. 65.
22 Brieven Bd. 3 S. 65, 66, 67, 94.
23 Brieven Bd. 3 S. 65, Bd. 5 S. 22, 24.