Full text: Hessenland (39.1927)

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Doch eine Blume fühlt die auch nicht? 
Nein, 
Man sagt, sie fühle nicht. 
Warum denn, Mutter, 
Als gestern ieh die Pukul ampat * brach, 
Hast du gesagt: es tut der Blume >veh. 
Mein Kind, die Pukul ampat war so schön, 
Du zogst die zarten Blättchen roh entzwei, 
Das tat mir für die arme Blume leid. 
Wenn gleich die Blume selbst es nicht gefühlt. 
Ich fühlt' es für die Blume, weil sie schön war. 
Doch, Mutter, bist du auch schön? 
Nein, mein Kind. 
Ich glaube nicht. 
Allein du hast Gefühl? 
Ja, Menschen haben's . . . doch nicht alle gleich. 
Uni) kann dir etwas weh tun? Tut dir's weh, 
Wenn dir im Schoß so schwer mein Köpfchen ruht? 
Nein, das tut mir nicht weh! 
Und, Mutter, ich . . . 
Hab' ich Gefühl? 
Gewiß! Erinn're dich, 
Wie du, gestrauchelt einst, an einem Stein 
Tein Händchen hast verwundet und geweint. 
Auch weintest du, als Suadien ** dir erzählte, 
Daß auf den Hügeln dort ein Schäslein tief 
In eine Schlucht hinunter siel und starb. 
Ta hast du lang geweint . . . das war Gefühl. 
Doch. Mutter, ist Gefühl denn Schmerz? 
Ja, oft! 
Doch . . . immer nicht, bisweilen nicht! Tu weißt, 
Wenn's Schwesterlein dir in die Haare greift, 
Und krähend dir's Gesichtchen nahe drückt, 
Tann lachst du freudig, das ist auch Gefühl. 
Uno Sann mein Schwesterlein ... es weint so oft. 
Ist das von Schmerz? Hat sie denn auch Gefühl? 
Vielleicht, mein Kind, wir wissen's aber nicht, 
Weil sie, so Nein, es noch nicht sagen kann. 
Doch, Mutter, was war das? 
Ein Hirsch, 
Ter sich verspätet im Gebüsch und jetzt 
Mit Eile heimwärts kehrt und Ruhe sucht 
Bei andren Hirschen, die ihm lieb sind. 
Mutter, 
.Hat solch ein Hirsch ein Schwesterlein wie ich? 
Und eine Mutter auch? 
Ich weiß es nicht, Kind. 
Tas würde traurig sein, wenn's nicht so wäre! 
Doch, Mutter, seh, ... was schimmert dort im Strauch? 
Seh', wie es hüpft und tanzt . . . ist das ein Funk? 
's ist eine Feuerfliege. 
Tarf ich's fangen? 
Tu darfst es, doch das Flieglein ist so zart, 
Du wirst gewiß ihm weh tun, und sobald 
Tu's mit den Fingern allzu roh berührst, 
Jst's Tierchen krank und stirbt und glänzt nicht mehr. 
* Eigentlich „vier Uhr", der Name einer Blume, die 
sich erst nachmittags um 4 Uhr öffnet. 
** Malaiischer Personenname, Name eines Dieners. 
Das wäre schade! Nein, ich fang' es nicht! 
Seh', da verschwindt es... nein, es kommt hierher. .. 
Ich fang' es doch nicht! Wieder fliegt es fort, 
Und freut sich, daß ich's nicht gefangen habe. 
Ta fliegt es . . . hoch! Hoch, oben . . . was ist das, 
Sind das auch Feuerflieglein dort? 
Tas sind 
Tie Sterne. 
Ein und zehn, und tausend! 
Wieviel sind denn wohl da? 
Ich weiß es nicht. 
Der Sterne Zahl hat niemand noch gezählt. 
Sag', Mutter, zählt auch Er die Sterne nicht? 
Nein, liebes Kind, auch E r nicht. 
Ist das weit, 
Tort oben, Ivo die Sterne sind? 
Sehr weit! 
Toch haben diese Sterne auch Gefühl? 
Und würden sie, wenn ich sie mit der Hand 
Berührte, gleich erkranken und den Glanz 
Verlieren, ivie das Flieglein? — Seh, noch schwebt 
ses! — 
Sag', würd' es auch den Sternen weh tun? 
Nein, 
Weh tut's den Sternen nicht! Doch 's ist zu iveit 
Für deine kleine Hand: du reichst so hoch nicht. 
Kann Er die Sterne fangen mit der Hand? 
Auch E r nicht: das kann niemand. 
Das ist schade! 
Ich gab' so gern dir einen! Wenn ich groß bin, 
Tann Ivill i ch 1 o d i ch lieben, da ß i ch's k a n n. 
Tas Kind schlief ein und träumte von Gefühl, 
Von Sternen, die es faßte mit der Hand . . . 
Tie Mutter schlief noch lange nicht! Doch träumte 
Auch sie, und dacht' an den, der fern war . . . 
Schon damals scheint der ganze Plan des Max 
Havelaar in seinem Geist fertig gewesen oder imter 
Ottiliens Einfluß fertig geworden zu sein. Aus 
ihrem später zu zitierenden Brief ergibt sich, dass 
er ihr viel daraus mitgeteilt hat, „alles komme ihr 
so bekannt vor". Sie lernt Malaiisch von ihm, 
und wir müssen annehmen, daß sie, sprachbegabt 
wie sie war, schnelle Fortschritte gemacht hat, denn 
für sie dichtet er das malaiische Gedicht, das Saidjah. 
singt, als er unter dem Ketapan Adinda erwartet, 
und das in ndl. Übersetzung später in den Max 
Havelaar ausgenommen wurde. (S. 245). Laut 
Einleitung zu „Brieven" Bd. 3 S. 8 ist das 
Gedicht noch handschriftlich im Besitz der Herans- 
geberin, die sich noch nicht dazu hat entschließen 
können, es zu veröffentlichen. In Note 445, hinter 
dem Max Havelaar, zitiert Multatuli den Beginn 
vers, der im Hd. lautet: (Spohr, Multatuli Aus 
wahl S. 464) „Sieh, wie der Badjing Atzung 
sucht" liatlah badjing tjari penghidupan 20 , was 
wörtlich heißt: „siehe doch das Eichhörnchen suchen 
Lebensbedürfnis". Das Lied heißt in der Spohrschen 
Übersetzung: 
20 penghidupan ist das Verbalsubstantiv zu (h)idup 
„leben".
	        
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