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redete fast keine erträglich und verstand nur wenige
vollkommen. Bei Krankheiten spielte er gern den
Propheten und in der That seine Weissagungen
gingen in der Regel in Wahrheit über. Unaufhörlich
war seine Thätigkeit. War etwas schnell zu expe-
diren, so scheute er, selbst noch als Greis, keine
Aufopferung nächtlicher Ruhe. Oft sah ich ihn
schon um vier Uhr des Morgens im Winter, indem
er sich eine große Laterne vortragen ließ, zu
Pazienten eilen. Gewöhnlich sang er alsdann mit
seiner Stentorstimme das bekannte Lied: Allons
enfans de la patrie etc. Nicht, weil er französisch
gesinnt war; sondern weil er die erhabenen Worte
und die herzerhebende Melodie liebte. Von 8—9
des Morgens verstattete er allen Kranken freien
Zutritt. In Ansehung des Essens und Trinkens
band er sich durchaus an keine Zeit. Er aß mehr
Fleisch als Vegetabilien. Fast nie soupirte er.
Ein Feind von allen Komplimenten senkte er doch
den Hut bis aus die Erde, wenn ihn jemand in
der Straße grüßte. Wenn man zu ihm sagte:
Was befehlen Sie? — antwortete er öfters weiter
nichts, als: Pfuy doch, und kehrte den Rücken zu.
Bei guter Laune nannte er seine Gattin gewöhnlich
seine gnädige Frau. „Die Professoren, sagte er
oft lachend, müssen mit den Studenten umgehen,
dann legen erstere den Bettelstolz und letztere das
Bramarbasiren ab." — Das Corpus juris nannte
er scherzweise: porcus juris. Er schrieb so häßlich
und unleserlich wie mit einem Span.
Eine andere Merkwürdigkeit, welche Marburg
eingebüßt, hat, war der bekannte Staarstecher und
Pietistische Schriftsteller Jung, der in neuerer Zeit,
besonders in der Allgem. T. Bibliothek, richtiger
gewürdigt worden ist. Ich hospitirte einst in einer
seiner staatswirthschaftlichen Vorlesungen; allein ich
lernte daraus weiter nichts, als daß es wahr seyn
müsse, daß Hr. Jung vormals Stilling gewesen.
Als Augenoperateur mag er allerdings Verdienste
haben; aber als Pfuscher in dem Fache der Theo
logie sollte man ihm billig das Handwerk legen,
damit sein Nonsens wenigstens ungedruckt und ge
sunde Köpfe unverwirrt blieben. Man hat be
haupten und beweisen wollen, Herr Jung sey ein
Tartüfse. Ich glaube, Pietisten und Tartüffes
waren immer Kinder Einer Mutter.
Es ist Zeit, daß ich Dich verlasse, kleines,
aber geselliges Marburg, das bei größerer Toleranz
einen angenehmen Aufenthaltsort darbieten würde!
— Deutet es nicht übel, Ihr Marburger, daß ich
frei gesprochen, denn wahrlich die Wahrheit ist auf
meiner Seite, wiewohl Ihr dies schwerlich zu
geben werdet, denn der Mensch, ist ein Sklav der
Gewohnheit und — ä chaque oiseau son nid est
beau.
Vor dem Barfüßer Thore gewährte uns Mar
burg zum zweitenmal einen reizenden Anblick mit
neuen Parthieen und Farbenspielen ausgestattet.
Die Stadt zeigte sich von dieser Seite mit ihren
lieblichen Umgebungen in einer schönern Beleuch
tung. Auf dem Wege nach Gießen dufteten uns viele
anmuthig blühende Felder mit Wintersaamen aus
ihren gelben Blumen den würzigsten Geruch ent
gegen. Schon hier war die Vegetazion augenschein
lich besser, als in Unterhessen. Wie mancher Mar-
burger Studiosus, dachte ich, indem ich lächelnd die
Chaussee mit meinen Augen maß, mag schon mit
beklommener Brust aus eiligst gemietheter Rosi-
nante diese Straße gezogen seyn, um sich in Gießen,
wo man mit solchen Artikeln nicht theuer ist, für
Geld und gute Worte ein Doktordiplom zu holen,
damit er mit dieser ehrfurchtgebietenden Urkunde
in der Hand daheim für einen hochgelehrten Mann
gelte und dadurch entweder eine fette Pfründe oder
eine goldschwere Braut oder wenigstens äußere
Ehre erangele. Denn in dem titelsüchtigen Teutsch-
laud ist jeder — 0, der kein Diplom, keinen Titel
aufzuweisen hat; ausgenommen, wenn er durch
vollwichtige Louis Bücklinge zu erzwingen weiß,
dann stehen ihm aber auch hinwiederum alle ge
heime Kanzleien und alle Charaktere zu Gebote."
Bredes Schilderung hat der Anonymus der
„Topographischen Bemerkungen eines Reisenden"
über Marburg und Umgebung in Rosenmeyers
Archiv des Königreichs Westfalen (Cassel 1808) zum
Teil wörtlich abgeschrieben. Vom „Auditorium, wo
rin die Doctoren kreirt werden", schreibt er:
„Vor der Erneuerung und Vergrößerung dessel
ben wurde eine nicht unbeträchtliche Sammlung
von Bildnissen verschiedener durchl. Erhalter dieser
hohen Schule, hauptsächlich aber von Lehrern der
selben darin aufbewahrt. Sie umkränzten in einer
zusammen geketteten Linie drei Seiten des Audi
toriums ganz nahe unter der Decke desselben. Links
zur Seite des Katheders erblickte man die Bildnisse
des verewigten großmüthigen Stifters der Univer
sität, seiner beiden ättesteu Söhne, und seines er
habenen Enkels. Rechts demselben die vortreflichen
Bildnisse der zwei letzten Rectorum magnificen-
tissimorum aus dem Hause Hessen-Cassel. Die
Abbildungen der Professoren hingen nicht nach den
Fakultäten, sondern nach ihrer Einlieferung, und
die neueren schlossen sich beinahe schon den herr
schaftlichen Bildnissen rechts an. Kein Ort stand
schicklicher zu ihrer Aufstellung zu wählen, als
dieser, wo die feierlichsten akademischen Handlungen
stets vorgenommen worden sind, und noch werden,
und wo jeder Akt sicherlich eine feierlichere Stim-
mung bekommt, wenn man solche erhabene und
ehrwürdige Repräsentanten der Vorzeit gleichsam
dabei vergegenwärtigen siehet. Da diese schätzbare
Sammlung von Bildnissen unserer einheimischen
Gelehrten seit ihrer Abnehmung im Jahre 1793
bisher noch nicht wieder aufgestellt ist, so dürfte wohl
nicht länger damit verweilt werden, wo man nicht
geflissentlich ihren Untergang bezweckt, welches doch
zu wenig Dankbarkeit gegen solche verdienstvolle
Männer verrathen würde, deren Bemühungen durch
Unterricht und Schriften zu der Morgenröthe und
Lichtsverbreitung in den Regionen der Wissenschaften
so erhebliche Dienste geleistet haben. Ihre Bild-