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das Ohr einzugehen bestimmt ist: ein außerordent
lich starkes rhythmisches Empfinden, das
eigenkräftig genug ist, um bei geeigneter Gelegen
heit der lyrischen Optik die Herrschaft streitig zu
machen. Daß dies in der Liebesdichtung
unbedingt der Fall ist, kann einem Zweifel nicht
unterliegen; denn hier beruht der schöpferische Stim
mungsgehalt auf einem rückhaltlosen Sich-Versenken
in das primäre Gefühl der Zuneigung und in die
Bewegung, die dieses Gefühl je nach dem Grade
des Anlasses hervorruft. Bewegungen — aber das
ist etwas, das immer als Rhythmus empfunden
wird und seinen Ausdruck in einer Verbindung
dieses musikalischen Empfindens mit Sinnbildern,
Symbolen sucht, weil es für derart subjektive Er
lebnisse keine konkreten Vorstellungen gibt. Um
sie zu verlautbaren, bedarf der Dichter des Gleich
nisses, denn die Stimmung, um die sich's handelt,
ist — objektiv — nur durch dieses Mittel zu er
fassen. Es erscheint beispielsweise unmöglich, das,
was in der „Indischen Strophe" gesagt ist, „anders"
zu sagen, und eben darin liegt der Beweis für die
Notwendigkeit und Vollkommenheit dieses sprach
lichen Kunstwerks:
Eine Mädchenseele gleicht dem Schal,
Ten man leicht hinsinken ließ von runder.
Weißer Schulter,
Weich und vielgesaltet ohne Wahl,
Und in jeder Falte wohnt ein Wunder.
Wenn ihn einer hebt mit zarter Hand,
Glätten sich die feinen Falten alle
Still und dankbar,
Und er hält ein strahlendes Gewand,
Fließend, wie in einem Wasserfalle.
Dieses Gedicht, nicht nur eines der schönsten, die
Berlepsch geschaffen hat, sondern auch eins der
edelsten, die die deutsche Lyrik überhaupt kennt,,
ist zugleich charakteristisch für das Wesen der Zu
neigung von Mann zu Weib, wie Berlepsch sie
empfindet. Es ist etwas Traumhaftes in diesem
Erleben, eine Keuschheit, die nicht Schwäche und
Entsagung, sondern Kraft und Adel des Gefühls
bedeutet. Ter Dichter sieht in der geliebten Frau
etwas Hohes und Erhöhendes und ähnelt darin
dem Troubadour, dem er einmal seine Stimme leiht.
Zuweilen ist ihm, als möchte er alles Körperliche
hassen, weil es die Eintracht der Seelen stört. Sein
mithin sehr inniges Empfinden ermangelt übrigens
nicht einer reichen Schattierung, die er zu pflegen
weiß und deren sprachliche Spiegelung mitunter,
wie sie zumal in dem Gedichtband „Die andere
Welt" vernehmbar wird, liedhaften Charakter zeigt:
Ich denk an dich wie an die Sonnenglut,
Die über Mittag auf den Wäldern ruht,
Ich denk an dich wie an ein Ährenfeld,
Von Früchten schwer, vom Sommerwind geschwellt.
Ich denk an dich wie an die Sternennacht,
Die nie erforscht und niemals ausgedacht,
Unendlich hoch, unendlich schön und fern,
Vergangne Stunden leuchten — Stern an Stern..
Es ist aber nicht nur das eigene, subjektive!
Empfinden, das Karl von Berlepsch zum schöpfe
rischen Erlebnis wird. Seine Gedichte aus dem
Krieg, namentlich tu dem Buch „Vom Herzschlag
der Stunden" gesammelt, lassen erkennen, daß auch
das Allgemeine, daß auch das Schicksal der Nation
tlnd der Menschheit dem Dichter eine Sache ist, gleich
ernst und wichtig wie das eigene Sein, das eigene
Leid. Aber er verfällt weder in eine üble Hurra-
Poesie noch Zn verbohrte Haßgesänge, er steht mit
fühlend über allen Einseitigkeiten und schaut mit
tiefer schmerzlicher Andacht den Geschehnissen zu,
die die Welt erschüttern. Das schlechthin Mensch
liche ist es, dessen Qual ihn ergreift und dessen
in dem blutigen Chaos spärliche Schönheit, wie
sie sich etwa in der. Kameradschaft offenbart,
ihn bewegt. Aber er verfällt auch hier so wenig
in iveichliche Gefühlsschwelgereien wie in prahle
rische, doch so leere Wortgepränge, wie sie nur zu
häufig in dieser Zeit erschienen und erscheinen,
sondern formt licht und klar, wie es ihm zu Sinn
ist, etwa in „Bruder, schlag ein":
Nun laßt den fressenden Bruderstreit!
Uns bindet alle das gleiche Leid,
Uns eint der Haß, der die Feinde entstellt,
Nun zeigt voll Ruhe dem Wahnsinn der Welt:
Daß ihr Deutsche seid!
Das Glück macht lässig, das Glück macht blind,
Wir Fhen erst klar, wenn die Not beginnt.
Wir sind doch alle aus einem Holz,
Wir fühlen erst heute in stummem Stolz:
Daß wir Deutsche sind!
Und die im Osten und die am Rhein,
Sie wollen von uns gehalten sein
Durch untern Willen und unsern Mut,
Tann wird am Ende noch alles gut!
Bruder, schlag ein!
Einem Menschen aber, der wie Karl von Ber
lepsch in Heimat und Familie verwurzelt ist, dem
kann auch die Vergangenheit nichts Totes
sein, denn diese Verwurzelung ist ja eine Brücke
des Blutes über die Schluchten und Abgründe der
Vergänglichkeit. Und so wachen die Zeiten, die
die Väter erlebten, in der Dichtung des Enkels
wieder auf und treten in manchem Bilde plastisch
vor den geistigen Blick der Nachwelt hin. Das
Rokoko ist es vor allem, das eine besondere An
ziehungskraft auf den Dichter ausübt und in zahl
reichen Variationen in seinem Schaffen erscheint.
Aber nicht nur diese Kultur-Epoche, und nicht nur
in lyrischen Miniaturen von heiterem Kolorit. Der
frühe Erfolg, den Karl von Berlepsch als Balladen
dichter errungen hat, ist kein vereinzelter Fall,
sondern kennzeichnend für eine entschiedene künst
lerische Veranlagung: in seiner Eigenschaft als
Balladen-Dichter betätigt Berlepsch zu
weilen eine nicht geringere Gestaltungskraft als
in seiner Eigenschaft als Lyriker. Geschichtliche
Begebenheiten, wie die Erschießung des hessischen
Freiheitshelden Emmerich durch die Franzosen, sa
genhafte Vorkommnisse, wie der Tod des Tomban-