Full text: Hessenland (38.1926)

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Die Gastwirtschaft zum „Wilden Wasser" liegt am 
Unterneustädter Kirchplatz, jenseits der malerischen 
Kasseler Altstadt, über die Fulda hinweg — soll 
heißen auf ihrem rechten Ufer —, die grüne 
Wiesenflächen, hohe Bäume, bunte Dächer und 
malerisches Fachwerk in ihren Wellen widerspiegelt. 
Dort tagte die Raabegesellschaft; dort werden noch 
heute ihre Schätze aufbewahrt: Bilder des Dichters, 
Bilder des hessischen Malers Theodor Matthei, 
Zeichnungen und Zerrbilder des nun schon toten 
Wilhelm Thielmann, außerdem noch andere „Re 
liquien", die die Mitglieder als Zimmerschmuck 
in der Ecke des Raabetisches an den Wänden an 
gebracht haben. 
Am 15. November 1904 feierte Wilhelm Raabe 
sein 50jähriges Schriststellerjubiläum. An dem 
selben Tage, an dem er 1910 starb, hatte er 1854 den 
ersten Strich zur „Chronik der Sperlingsgasse" 
getan. Bei der Feier in Braunschweig spielte auch 
ein Kasselaner eine wichtige Rolle: es war der 
Chefredakteur Hans Eisenträger, der Jugendfreund 
des Dichters Wilhelm Speck. Eisenträger ließ in 
gebundener Rede die Figuren der „Sperlingsgasse" 
ihrem Schilderer, Johannes Wachholder-Raabe, eine 
Huldigung darbringen. Zu dieser Feier hatte die 
Künstlergesellschaft „Pvunzel" in Kassel, die eng 
mit der Raabe-Gesellschaft verbunden war, wie diese 
Glückwünsche gesandt mit Abbildungen der Fresken 
des Raabezimmers und den Schwälmer Tänzen 
Johänn Lewalters. 
Das Jahr 1906 brachte den 75. Geburtstag 
Raabes. Wieder gingen aus Kassel Glückwünsche 
fort. In dem Gästebuch der „Pvunzel" befindet sich 
die Antwort Wilhelm Raabes. Ganz kurz schreibt 
er da unter die Steinzeichnung von Strich-Chapell 
„Lieb Heimatland, ade" — was für den Dichter 
recht charakteristisch erscheint: „Allen den lieben 
Freunden und Freundinnen, Gönnern und Gönne 
rinnen in Cassel, — auch denen im Milden Wassel 
herzlichsten Tank für alle die Grüße zum 75. Ge 
burtstage! In Treuen Wilh. Raabe." 
Bei dieser Feier in Braunschweig, an der der 
greise Dichter teilnahm, hatte er abends beim Ab 
schied zu seinen Gästen gesagt: „Am 8 . September 
1911 auf Wiedersehn! — Kinder, kommt gut nach 
.Hause!" Meister Raabe konnte seine Gäste zum 
80. Geburtstag nicht mehr empfangen; ein Jahr 
vorher war er gestorben. Am 75. Geburtstag hatte 
die Stadt Kassel dem Altmeister zu Ehren eine 
Straße Wilhelm Raabe-Straße genannt und dem 
Dichter das betreffende Schriftstück durch Stadtrat 
Schwiening überreichen lassen. 
Ein Schreiben, das der Dichter nicht allzu lange 
vor seinem Tode nach Kassel sandte — der briefliche 
Verkehr dauerte natürlich die ganzen Jahre hin 
durch an — verdient, hier erwähnt zu werden, da 
es den trotz des Alters so Humorkrästigen fein charak 
terisiert. Es ist an Johann Lewalter gerichtet und 
stammt vom 28. September 1910. Nach einem Tank 
für eine musikalische Geburtstagsgabe heißt es darin: 
„Mir geht es seit langem herzlich schlecht. Seit Mo 
naten sitze ich prostatakrank (80 jährig) in der Stube. 
Der alte unverwüstliche Raabe ist hin auf immer.— 
Die hunderte Geburtstagsbriefe liegen noch alle un 
gelesen. — Briefe zu schreiben, ist mir eine Un 
möglichkeit. Schonen Sie Ihre Gesundheit und — 
werden Sie nicht zu alt!" Das ist das letzte Schrei 
ben, das Raabe nach Kassel geschickt hat; acht Wochen 
später deckte ihn schon die Erde. 
Das Gästebuch der Gesellschaft „Pvunzel" enthält 
noch eine Karte Raabes vom 1. März 1906 mit 
einem Bild aus Herbsts Weinstube in Braunschweig. 
In diesem Raum hat auch Wilhelm Speck, der in 
Kassel „unter blühenden Fliederbüschen und im 
ersten schönen Lebensfrühling" den Weg zu Wilhelm 
Raabe gesunden hat, mit dem Dichter der „Sper 
lingsgasse" zusammen gesessen. Hans . Eisenträger, 
der Jugendfreund Wilhelm Specks (vgl. oben), leistete 
ihnen Gesellschaft. Wilhelm Speck hat seine Be 
ziehungen zu Wilhelm Raabe schriftlich niedergelegt, 
hat im Briefwechsel mit ihm gestanden und auch in 
Briefen an seine Freunde oft von dem Braun- 
schweiger Dichter gesprochen. Das erste Werk Raabes, 
das Wilhelm Speck, der Dichter der „Zwei Seelen", 
kennen lernte, war die „Chronik der Sperlings 
gasse" — „in einer alten feinen Ausgabe, die ein 
mal als Brautgeschenk gedient haben mochte. Ich 
bekam das Büchlein geborgt, und es schenkte mir 
wahre Glücks- und Feierstunden und ließ die erste 
Freundschaft zu dem großen Dichter in mir auf 
gehen, die ein ganzes Leben lang geblieben ist, bis 
der große, leuchtende Dichterstern hinüberzog in die 
ewige Welt." Dies erste große Erlebnis Wilhelm 
Specks geschah in Kassel. Obgleich der Dichter der 
„Zwei Seelen" lange Zeit von dort fern war, muß 
dies doch hier erwähnt werden, da er wohl der 
größte Träger der Beziehungen Wilhelm Raabes 
zu Kassel ist. Das mag aus den folgenden Worten 
eines Briefes von Speck hervorgehen: „Der alte Wit- 
helmus ist mir eine der rührendsten und daneben auch 
fast die größte Dichtererscheinung seit einem halben 
Jahrhundert. Was hat der Mann durchmachen 
müssen, daß die Leute mehrere Jahrzehnte ganz 
gleichgültig an ihm vorüber gingen." Als Wilhelm 
Speck schon erkrankt war, gedachte er noch oft des 
toten Wilhelm Raabe, „mit dem er einst ein inniges 
Leben führen durfte." 
Hier sei noch ein Brief Raabes angefügt, den er 
acht Wochen nach seinem 75. Geburtstag an Wil 
helm Speck sandte; es ist einer von denen, die sich, 
scheinbar lückenhaft, im literarischen Nachlaß Specks 
befinden, der aber für diese Zusammenstellung Wert 
hat. Raabe schreibt darin am 26. November 1906 
von Braunschweig aus: „Verehrter lieber Freund 
W. Speck! Sie müssen entschuldigen, daß ich erst 
heute Ihre so herzliche Zuschrift beantworte; aber 
es ging nicht anders! Seit dem 8 ten September hat 
sich meine Korrespondenz verdoppelt und verdreifacht 
und die Zusendungen von allem möglichen und un 
möglichen Litteraturschund nebst den obligaten Zu 
muthungen können einen alten Kerl fast zur Ver 
zweiflung bringen. Da ist dann so ein Brief wie der
	        
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