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Die Gastwirtschaft zum „Wilden Wasser" liegt am
Unterneustädter Kirchplatz, jenseits der malerischen
Kasseler Altstadt, über die Fulda hinweg — soll
heißen auf ihrem rechten Ufer —, die grüne
Wiesenflächen, hohe Bäume, bunte Dächer und
malerisches Fachwerk in ihren Wellen widerspiegelt.
Dort tagte die Raabegesellschaft; dort werden noch
heute ihre Schätze aufbewahrt: Bilder des Dichters,
Bilder des hessischen Malers Theodor Matthei,
Zeichnungen und Zerrbilder des nun schon toten
Wilhelm Thielmann, außerdem noch andere „Re
liquien", die die Mitglieder als Zimmerschmuck
in der Ecke des Raabetisches an den Wänden an
gebracht haben.
Am 15. November 1904 feierte Wilhelm Raabe
sein 50jähriges Schriststellerjubiläum. An dem
selben Tage, an dem er 1910 starb, hatte er 1854 den
ersten Strich zur „Chronik der Sperlingsgasse"
getan. Bei der Feier in Braunschweig spielte auch
ein Kasselaner eine wichtige Rolle: es war der
Chefredakteur Hans Eisenträger, der Jugendfreund
des Dichters Wilhelm Speck. Eisenträger ließ in
gebundener Rede die Figuren der „Sperlingsgasse"
ihrem Schilderer, Johannes Wachholder-Raabe, eine
Huldigung darbringen. Zu dieser Feier hatte die
Künstlergesellschaft „Pvunzel" in Kassel, die eng
mit der Raabe-Gesellschaft verbunden war, wie diese
Glückwünsche gesandt mit Abbildungen der Fresken
des Raabezimmers und den Schwälmer Tänzen
Johänn Lewalters.
Das Jahr 1906 brachte den 75. Geburtstag
Raabes. Wieder gingen aus Kassel Glückwünsche
fort. In dem Gästebuch der „Pvunzel" befindet sich
die Antwort Wilhelm Raabes. Ganz kurz schreibt
er da unter die Steinzeichnung von Strich-Chapell
„Lieb Heimatland, ade" — was für den Dichter
recht charakteristisch erscheint: „Allen den lieben
Freunden und Freundinnen, Gönnern und Gönne
rinnen in Cassel, — auch denen im Milden Wassel
herzlichsten Tank für alle die Grüße zum 75. Ge
burtstage! In Treuen Wilh. Raabe."
Bei dieser Feier in Braunschweig, an der der
greise Dichter teilnahm, hatte er abends beim Ab
schied zu seinen Gästen gesagt: „Am 8 . September
1911 auf Wiedersehn! — Kinder, kommt gut nach
.Hause!" Meister Raabe konnte seine Gäste zum
80. Geburtstag nicht mehr empfangen; ein Jahr
vorher war er gestorben. Am 75. Geburtstag hatte
die Stadt Kassel dem Altmeister zu Ehren eine
Straße Wilhelm Raabe-Straße genannt und dem
Dichter das betreffende Schriftstück durch Stadtrat
Schwiening überreichen lassen.
Ein Schreiben, das der Dichter nicht allzu lange
vor seinem Tode nach Kassel sandte — der briefliche
Verkehr dauerte natürlich die ganzen Jahre hin
durch an — verdient, hier erwähnt zu werden, da
es den trotz des Alters so Humorkrästigen fein charak
terisiert. Es ist an Johann Lewalter gerichtet und
stammt vom 28. September 1910. Nach einem Tank
für eine musikalische Geburtstagsgabe heißt es darin:
„Mir geht es seit langem herzlich schlecht. Seit Mo
naten sitze ich prostatakrank (80 jährig) in der Stube.
Der alte unverwüstliche Raabe ist hin auf immer.—
Die hunderte Geburtstagsbriefe liegen noch alle un
gelesen. — Briefe zu schreiben, ist mir eine Un
möglichkeit. Schonen Sie Ihre Gesundheit und —
werden Sie nicht zu alt!" Das ist das letzte Schrei
ben, das Raabe nach Kassel geschickt hat; acht Wochen
später deckte ihn schon die Erde.
Das Gästebuch der Gesellschaft „Pvunzel" enthält
noch eine Karte Raabes vom 1. März 1906 mit
einem Bild aus Herbsts Weinstube in Braunschweig.
In diesem Raum hat auch Wilhelm Speck, der in
Kassel „unter blühenden Fliederbüschen und im
ersten schönen Lebensfrühling" den Weg zu Wilhelm
Raabe gesunden hat, mit dem Dichter der „Sper
lingsgasse" zusammen gesessen. Hans . Eisenträger,
der Jugendfreund Wilhelm Specks (vgl. oben), leistete
ihnen Gesellschaft. Wilhelm Speck hat seine Be
ziehungen zu Wilhelm Raabe schriftlich niedergelegt,
hat im Briefwechsel mit ihm gestanden und auch in
Briefen an seine Freunde oft von dem Braun-
schweiger Dichter gesprochen. Das erste Werk Raabes,
das Wilhelm Speck, der Dichter der „Zwei Seelen",
kennen lernte, war die „Chronik der Sperlings
gasse" — „in einer alten feinen Ausgabe, die ein
mal als Brautgeschenk gedient haben mochte. Ich
bekam das Büchlein geborgt, und es schenkte mir
wahre Glücks- und Feierstunden und ließ die erste
Freundschaft zu dem großen Dichter in mir auf
gehen, die ein ganzes Leben lang geblieben ist, bis
der große, leuchtende Dichterstern hinüberzog in die
ewige Welt." Dies erste große Erlebnis Wilhelm
Specks geschah in Kassel. Obgleich der Dichter der
„Zwei Seelen" lange Zeit von dort fern war, muß
dies doch hier erwähnt werden, da er wohl der
größte Träger der Beziehungen Wilhelm Raabes
zu Kassel ist. Das mag aus den folgenden Worten
eines Briefes von Speck hervorgehen: „Der alte Wit-
helmus ist mir eine der rührendsten und daneben auch
fast die größte Dichtererscheinung seit einem halben
Jahrhundert. Was hat der Mann durchmachen
müssen, daß die Leute mehrere Jahrzehnte ganz
gleichgültig an ihm vorüber gingen." Als Wilhelm
Speck schon erkrankt war, gedachte er noch oft des
toten Wilhelm Raabe, „mit dem er einst ein inniges
Leben führen durfte."
Hier sei noch ein Brief Raabes angefügt, den er
acht Wochen nach seinem 75. Geburtstag an Wil
helm Speck sandte; es ist einer von denen, die sich,
scheinbar lückenhaft, im literarischen Nachlaß Specks
befinden, der aber für diese Zusammenstellung Wert
hat. Raabe schreibt darin am 26. November 1906
von Braunschweig aus: „Verehrter lieber Freund
W. Speck! Sie müssen entschuldigen, daß ich erst
heute Ihre so herzliche Zuschrift beantworte; aber
es ging nicht anders! Seit dem 8 ten September hat
sich meine Korrespondenz verdoppelt und verdreifacht
und die Zusendungen von allem möglichen und un
möglichen Litteraturschund nebst den obligaten Zu
muthungen können einen alten Kerl fast zur Ver
zweiflung bringen. Da ist dann so ein Brief wie der