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Darmstadt. Großherzogliche Porzellansammlung.
fehlte, um überhaupt Werke der angewandten Kunst
in nennenswertem Umfange zu produzieren. Viel
leicht ist diese reine Äußerlichkeit mit ein Grund'
dafür, daß die zweite revolutionäre Erschütterung
der Künstlerseele, die mit der politischen Revolution
des Jahres 1918 einsetzte, die Vertreter der freien
Kunst in ganz anderem Maße packte als die Architek
ten und Kunstgewerbler. Der Gegensatz zwischen dem
seit einigen Jahren wieder neu aufgekommenen, aber
bisher kaum ernsthafter beachteten Expressionismus
und dem zu seiner höchsten Blüte gereiften (über
reiften?) Impressionismus, zwischen „junger" und
„alter" Kunst,- wie der Expressionist — nicht ohne
spitze Nebenabsicht — die beiden Kunstrichtungen
kurz zu bezeichnen liebte, brach lodernd hervor. Die
„jungen" Künstler, die das Gefühl hatten, während
der monarchischen Zeit nicht genügend anerkannt
worden zu sein, begrüßten die politische Umwälzung
als Schrittmacher für ihren künstlerischen Radikalis--
mus und fanden eine Anhängerschaft, die wohl zum
großen Teil Mitläufertum war, aber der „Idee"
einen gewaltigen Machtzuwachs brachte. Die Ver
treter der „alten" Richtung ihrerseits sahen ihr
Heiligstes bedroht und klammerten sich um so fester
an ihr künstlerisches Glaubensbekenntnis.
Darüber sind nun wieder ein paar Jahre ver
gangen. Der Sturm und Drang auch dieser Epoche
ist abgeebbt, die bizarren Auswüchse sind ganz von
selbst abgestorben. Noch allerdings ist keine volle
Klärung erfolgt. Aber so viel kann und darf doch
heute gesagt werden, daß auch die zweite künst
lerische Revolution dieses Jahrhunderts ihr Gutes
gehabt hat. Daß auch sie mit Dogmen aufgeräumt
har, die zu erstarren drohten, daß auch sie die etvige
Wahrheit drastisch in Erinnerung gebracht hat, daß
nichts Menschliches stille stehen kann, ohne zu ver
kümmern, daß alles Menschliche der Entwicklung
unterworfen ist — auch die Kunst. Das bedeutet
nicht, daß der heutige Künstler sich überheblich hin
wegsetzen dürfe über die Leistungen unserer Vor
fahren, der Antike, der romanischen, der gotischen
Kunst, der Renaissance und des Barock — diese
herrlichen Dokumente genialer Schöpfer behalten
ihren ewigen Wert. Es bedeutet aber, daß der
heutige Künstler nicht berufen sein kann, mit seinen
großen Vorgängern in Konkurrenz zu treten. Es
bedeutet, daß er als Kind seiner Zeit nichts schassen
kann, was nicht seiner Zeit gemäß .ist, was natur
notwendig aus einer anderen Epoche herausgewachsen
ist. Aber jene großen Epochen müssen dem heutigen