Full text: Hessenland (38.1926)

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sind Darmstädter, in einer ganz eigenen Weise 
mit den: Wesen dieser Stadt verwachsen und 
durch ihre Wesensart mit ihr unlöslich ver 
bunden. Mag heute auch Schiebelhuth von 
Florenz aus seine hymnischen Gesänge singen, 
mag Mierendorff in Berlin und Haubach in 
.Hamburg sitzen, ihr innerster Kern wird immer 
in der alten Heimat verwurzelt bleiben, so 
wie Lichtenberg in Göttingen und Peter Helfe 
rich Sturz in Kopenhagen doch niemals die 
geistige Darmstädter Mundart verleugnen konn 
ten. Und diese Mundart ist das Entscheidende; 
von ihr hat der junge Verleger Josef Würth 
in der „Dachstube" in reiner und konzen 
trierter Form den charaktervollsten Ausdruck 
gesammelt, er hat die Werke als Hand 
drücke auf eigener Presse zu bibliophilen Kost 
barkeiten gemacht und damit eine für Darm 
stadt wesentliche Literaturepoche von un 
mittelbarem Wert auch äußerlich zusammen 
geschlossen. 
Ein wenig abseits von diesem Kreis, durch 
Alter und Reife ihm überlegen, aber ihm 
doch innerlich verbunden, steht Wilhelm Michel, 
der Hölderlinforscher und Essayist. Michel ist 
ursprünglich kein Darmstädter, ist ein „Zu 
gewanderter"; aber wie etwa der Goethe- 
sorscher und Mystiker Karl Justus Obenauer 
trotz seiner Darmstädter Herkunft sich von 
der Stadt und ihren Menschen innerlich iso 
liert hält, wie der Gelehrte Friedrich Gun- 
dolf seiner Vaterstadt entfremdet und ins 
ausschließlich Geistverwurzelte gewachsen ist, so 
hat umgekehrt der Pfälzer Wilhelm Michel 
aus Darmstadt sich eine wirkliche Heimat ge 
macht. Doch er hat sich nicht in ihr ver 
loren und verengt, sondern er hat ihr in leiden 
schaftlichem Bereicherungsdrang frisches Leben 
und echten Atem zugeführt, so sehr, daß ohne 
ihn das eigentliche, das geistige Darmstadt heute 
nicht mehr vorstellbar wäre. Dabei steht es ja nun 
freilich so, daß, wenn der Essayist und Kritiker 
Michel bei jedem Darmstädter von einigem Niveau 
ein offenes Ohr hat, der Dichter und Forscher Michel 
noch ein wenig fremd geblieben ist; trotzdem aber 
hat er es erreicht, daß seine Hölderlin-Bearbeitungen 
„Oedipus" und „Antigone" in den letzten Jahren 
auf der Darmstädter Bühne dem Rampenlicht zu 
gängig wurden und damit ein wichtiges Kapitel 
seiner Hölderlinforschung der Öffentlichkeit an dem 
berufensten Platze zur Diskussion gestellt wurde. 
In Wilhelm Michel verkörpert sich für Darmstadt 
die Bindung der jungen lebendigen und oft über 
mütigen Strömungen des Geistes mit dem großen 
Strom der Welt: wie Michel der „Dachstube" und 
dem Verlag Alexander Koch gleich nahe steht, wie 
er derjenige ist, der den eigentlichen geistigen 
Charakterzug Darmstadts von Lichtenberg und Merck 
über Niebergall bis Edschmid kritisch sondierend er 
kannt und präzisiert hat, so ist er heute die leben 
digste und vor allem bekenntnishaft wichtigste Er 
Darmstädter Stadtkirche, vom Woogsplatz aus gesehen. . 
scheinung unter den produktiven geistigen Darm 
städter Köpfen. 
* 
Der große und unaufhaltsame Strom geistmensch 
licher Entwicklung wird zuletzt ja doch aus un 
endlich vielen und oft unendlich kleinen Quellen 
gespeist und wird seine Richtung als Resultante der 
in jenen wohnenden motorischen Kräfte nehmen. 
Alle Energien, die mehr oder weniger lebhaft von 
irgendwoher ihm zufließen, sind für ihn wichtig. 
Das Darmstadt, das auf den ersten Blick das 
Wesen der kleinen verschlafnen Residenz noch nicht 
ganz abgestreift hat, das Darmstadt, dessen neunzig 
tausend Bewohnern der Intendant Gustav Hartung 
nahezu zehntausend Theaterabonnenten abgetrotzt 
hat und zur regelmäßigen Anteilnahme an den 
dortigen geistigen Ereignissen veranlaßt hat, die nach 
Form und Inhalt Provinzmaß weit überragen, das 
Darmstadt, dessen Theaterkritik in einem selbst in 
Großstädten kaum gekannten Maße fast durchweg auf 
Niveau hält, dieses Darmstadt wird trotz mancher 
Eigenhemmungen immer ein wesentliches Glied in 
der Entwicklung deutschen Geistes sein und hat An 
spruch darauf, als solches beachtet zu werden.
	        
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