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meist konkreten Inhalts. Nur so konnte „Zirene" zn
„Zitterrinde" und'„Citrone" werden!
Ein weiteres Musterbeispiel volksetymologischer
Umdeutung bietet uns der Jelänger-Jelieber in der
Herrschaft Schmalkalden, die ja zu Hessen gehört.
Besagter Jelänger-Jelieber ist bei näherem Hinzu
sehen wiederum unser schöner Flieder, den wir so
eben auf Kreuz- und Quersahrten in Hessen und
Nassau beobachtet haben.
„Jelänger-Jelieber?" werden die Schmalkalder
sagen, „das stimmt ja gar nicht. Wir haben einen
viel poetischeren Ausdruck, wir sagen ,Liebende En
gels" Wer hat nun Recht? Beide haben Recht,
ja, sogar ein dritter, der behauptet, es heiße ja
„Ängelieber"! Diese letzte Form, die auch „Engel
lieber" geschrieben worden ist, gibt uns den Schlüssel
zum Verständnis des Zusammenhangs, in dem die
beiden andprn stehen. Das umständliche und dem
Volksdenken befremdliche „Jelänger-Jelieber" wurde
zum „Längerlieber"— eine Zwischenstufe ist „Länger-
ilieber", aus Brotterode bezeugt — vereinfacht und
lebt noch in dieser Form (z. B. in Rotterode). In
manchen Orten ging die Umbildung weiter unter
Anlehnung an Engel zu „Engellieber" (eingesandt
aus Mittelstille und Bermbach). Im Ort Schmal
kalden ist noch beides bekannt und gebräuchlich,
Längerlieber neben Engellieber.
„Engel" und „lieb" sind bekannte Begriffe, nur
die Form „Engellieber" könnte noch störend wirken,
da die Schriftsprache und die Mundart ■, sonst keine
entsprechende Wortbildung kennt. Dieser Schritt zur
Anpassung der Form (vorher war der Inhalt pas
send gemacht worden) wird nun auch noch getan —
und in Kleinschmalkalden heißt der Flieder „Lieber
Engel"!
So hat uns unsere Wanderung durch das flieder
duftende Hessen-nassauische Land bis nach Schmal
kalden geführt. Nicht nur einen Notizblock voll
Namen haben wir mitgebracht, nein, dem mundart-
sprechenden Volke haben wir dabei ein wenig die
Gedankengänge inspiziert und gesehen, wie ver
ständig und auch wie kraftvoll es sich fremdes und
unverstandenes Gut zu eigen zu machen versteht.
Aller Ballast, z. B. Herkommen des Wortes, Poesie
des Ausdrucks, praktische Logik zur Scheidung von
Gattungsbegriffen (Syringe wird zu Citrone!) wird
beiseite geworfen, Anschaulichkeit allein triumphiert.
Von der Dreihundertjahrfeier der Universität Marburg
(27. - 31 Juli 1827).
Vier Tage und vier Nachte auf dem Zten Secularfeste in Marburg.
(Schluß.) (Schreiben eines alten Burschen an seinen ehemaligen Universitäts-Freund.)
Den folgenden Sonntag Morgen war in der
Deutsch-Haus- und Lutherischen Kirche um 7 Uhr
Gottesdienst. Nach Beendigung desselben fing man,
um sich zu erstaunen, in den Wein- und Conditor-
häusern wieder damit an, womit man in der ver
gangenen Nacht aufgehört hatte, — nach dem be
kannten, „vom vorigen Rausche zufrieden, schon
auf den zukünftigen bedacht". Daraus versammelte
man sich wieder, wie gestern, gegen 9 Uhr i n u.
vor der Elisabethen-Kirche zum 2 teu feierlichen
Zuge nach der Universitäts-Kirche, der heute mit
Glockengeläute begleitet wurde.
Des zuschauenden Volkes war noch einmal so
viel, wie gestern. Bei keinem andern feierlichen
Feste wird je wieder bis zum künftigen Jubiläum
eine solche Menschenmenge in dem alten, geschichtlich
merkwürdigen Marburg zusammen kommen!
Nach beendigter Kirchen-Feier die durch ein kräf
tiges Singchor mit Instrumental-Musik unter Lei
tung des musikalisch enthusiastischen Cantor's Beck
erhöht wurde, gings wieder in's große Auditorium,
wo, nach gehaltenen Reden, mehrere Promotionen
vorfielen, und damit die Vormittags-Feierlichkeit
geschlossen.
War's gestern ein Menschengetreibe ans den
Straßen, so war's heute ein beinah' undurchdring
liches Gedränge, denn die Plebejer, jetzt Kaffern
genannt, aus der ganzen Umgegend hatten sich,
weils Sonntag war, zur Stadt gezogen, und an
Fremden waren die ganze Nacht hindurch und den
ganzen Vormittag noch sehr viele angekommen, so
daß in den 4 ersten Gasthäusern alle tublss ck'dots
dicht besetzt, und alle übrige Wein- Bier- und
Schnapshäuser gepfropft voll waren.
Ohnerachtet der Tageshitze brach dennoch gleich
nach der Mittagstafel im blauen Löwen ein Com-
mers los, — so hatte die Freude des Festes Alt
und Jung exaltirt!
Nachmittags gings theilweise wieder nach Pfeif
fers Garten. Tie Ruinen von der vorigen Nacht
waren ziemlich weggeschafft, — in den Anlagen
des Gartens sahe man aber die Folgen von dem
2 Tage und 2 Nächte hindurch statt gehabten Ge
dränge.
Der Eigenthümer des Gartens wußte sich psr
inckiroetum zu entschädigen.
Gegen 8—9 Uhr Abends zogs nun wieder nach
der Stadt zurück. Wer an dem auf dem Rathhause
pon der Stadt den Burschen veranstalteten großen
Ball, — mit Wein und kalter Küchen-Bewirthung,
Theil nehmen wollte, schickte sich dazu an.
Ja, man ist wohl auf manchem großen Balle,
und auf mancher großen Maskerade in Residenzen
und an Bädern, bei Fürstlichen und anderen großen
Feierlichkeiten gewesen, — aber von diesem Univer-
sitäts-Jubiläums-Balle eine solche vollständige Be
schreibung zu machen, um sich die Wirklichkeit dar
aus vorzustellen, ist unmöglich. Der Grund liegt