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Springen wir zweieinhalb Jahrhunderte zurück
in die Zeit Wilhelms IV. und Moritz' des Ge
lehrten. Noch ungestört durch fremde Absichten liegt
hier in den Unternehmungen, Versuchen und Ver
arbeitungen der allein begründende und zielweisende
Wille der Landgrafen zu Tage; selbst in dem am
frühesten von dem Gesamtkörper der Sammlungen
abgelösten und nach eigenen Gesetzen fortentwickelten
Teilstück: der Bibliothek. Auch sie war ja in ihrem
Ursprung, nicht anders wie Sternkataloge und Her
barien, Warte und Lustgarten, nichts als ein Glied
in dem geschlossenen Ring eigenster fürstlicher Be
mühung, einer Bemühung freilich, die nicht auf die
leidenschaftslose Abstraktheit einer wissenschaftlichen
Disziplin ging, sondern auf die Verknüpfung aller
Erfahrbarkeiten mit dem Heil des Körpers und der
Seele.
Dos kommt vielleicht nirgends so schlicht zum
Ausdruck wie in der Dedikation, die Ratzenberger
seinem Herbarium mitgab, als er es kurz vor Wil
helms Tode 1592 dem Prinzen Moritz widmete,
sowie in der landgräslichen Antwort auf sie. Keßler
hat beide Schriftstücke in seiner 1870 erschienenen
Schrift über „das älteste und erste Herbarium
Deutschlands", das heute den Stolz des Kasseler
Naturalienmuseums bildet, und — mit Berücksich
tigung des inzwischen in Bd. 4 der N. A. der
Zeitschr. H.G.V. herausgekommenen Aufsatzes von
Quehl über das Mauritianische Herbarium, das
ebendort liegt — im Programm der höheren Bürger
schule von 1872 abgedruckt. Den jungen Ärzten
und Arztschülern (Neäici und Neäicinae lirones)
hatte Ratzenberger sein dreiteiliges Herbarium zur
Belehrung zugedacht — „Kreuter so tzur leber lungen
Hertz mutter und wund ertznei dienlich", heißt es im
Titel zum mittleren Teil —, und einen Arzt, den
Leibmedicus Mauritius Thaurer bezeichnet Moritz
als seinen Referenten in dieser botanischen An
gelegenheit, obwohl schon seit 1591 der mit land
gräflichen Stipendien in Padua zum Botaniker aus
gebildete I. A. Hyperius sich zu Kassel in des
regierenden Landgrafen Diensten befand — (Keßler,
Ldgrs. Wilh. IV. als Botaniker, Programm der
Realschule Kassel, 1859, S. 20 ff).
Und noch das zweite vierbändige Herbarium
Nauritianurn, das zwischen 1596 und 1629 in
Kassel zujammengestellt wurde, steht fast ausschließ
lich unter der Aufsicht und Förderung der Ärzte,
wenn auch für Keßlers Vermutung (Progr. 1872,15),
daß seine Anlegung auf Thaurer zurückginge, kein
Beweis zu erbringen ist.
Es konnte für eine Weile scheinen, als ob Kassel
zu einer kulturellen Vormacht werden sollte, nach
dem es aufgehört hatte, eine politische zu sein; Astro
nomen und Mechaniker, Botaniker und Alchymisten,
Künstler, Komödianten und Musiker fanden sich am
Hofe dieser weisen und gelehrten Fürsten. Und
wahrlich nicht von ungefähr; denn Krämer und
Könige wurden bemüht, um das Kostbarste und Sel
tenste nach Kassel zu ziehen. In diesen Tagen, da
sich das Museum anschickt, sich leitend und fördernd
der lang entfremdeten Naturaliensammlung wieder
anzunehmen, darf wohl mit besonderem Nachdruck
auf diese alten Strebungen hingewiesen werden.
Nachdem v. Rommel (V. S. 728—33) die Garten-
liebhaberei Wilhelms mit einer Fülle von Bemer
kungen anziehend geschildert hatte, hat Keßler in
seinem Programm von 1859 die Reste der land
gräflichen Korrespondenz mit Fürsten,» Gelehrten und
Händlern vorgelegt. Da erscheinen die Nürnberger
Torisanis, schon 1562, sechs Jahre vor Gründung
des Lustgartens als Lieferanten von Pomeranzen,
Zitronen und Myrtenbäumchen; 1574 bezieht Wil
helm durch sie Samen aus Florenz, 1585 strecken sie
auf fürstliches 'Geheiß dem damaligen Studenten
Hyperius in Padua Geld vor. Es sind dieselben
Kaufherren, die von Drach im Zusammenhang mit
dem hessischen Tapetenimport ermittelt hat, und
mit denen noch Moritz (Rommel, VI, 403) über
Musikertruppen korrespondierte. Es erscheinen die
Fürsten, Verwandte und Nichtverwandte, bis hin
auf zu Kaiser Maximilian II., dem Wilhelm am
22. Juni 1575 für die Übersendung von Samen
exotischer Gewächse mit artiger Aufmerksamkeit dankt.
Er schickt nämlich dem Kaiser, da er von seiner Vor
liebe für kunstreiche Uhrwerke gehört habe, „einen
kleinen globum caelestem cum vero motu solis
et calendario“ — einen belveglichen Himmels
globus —, den er als Probestück habe anfertigen
lassen, um danach einen von Silber und kunstreicher
Goldschmiedearbeit in Auftrag zu geben. Da aber
der kaiserliche Rat Jlsung Maximilian schon Mit
teilung von dem bevorstehenden Geschenk gemacht
und Wilhelm berichtet habe, wie sehr der Kaiser
nach dem Globus verlange, so wage er es, dies
Probestück — entweder aus Kupfer oder, wie meh
rere der Globen des Landgrafen, aus Papier (siehe
v. Drach: die zu Marburg befindliche Globusuhr,
1894, S. 5 f.) — mitsamt dem Meister des Werks,
der es probieren und erklären solle, schon jetzt an
Kaiserliche Majestät abzusenden, selbst auf die Gefahr
hin, damit noctuas Athenas, Eulen nach Athen,
zu tragen.
Diese wichtige, durch botanische Interessen ein
geleitete Jnstrumentenüberweisung geht der ersten
Reise Bürgis an den kaiserlichen Hof nach Prag um
17 Jahre voraus. Auch dann war es der Kaiser, und
zwar Rudolf II., der „nachdem wir berichtet worden,
daß Dein Lieb ein geschickten mechanicum Joß
Bürg genannt, hab", dem Landgrafen nahelegte, ihn
mit seinen Wunderwerken zu übersenden (v. Drach,
Bürgi S. 23); aus obigem Brief von 1575 wird deut
lich, wie der Kaiser durch seine auswärtigen Räte
über den Hof zu Kassel informiert wurde. Wer der
Meister war, den Wilhelm damals an Max schickte,
läßt sich nur vermuten; es war entweder der seit
1568 in Kassel bestallte Eberhard Baldewein oder,
da Wilhelm am 1. Dezember 1573 noch an Al
brecht von Mecklenburg schrieb, daß nach Tod und
Wegzug seiner Meister ein Globus „Jtziger Zeit
dyeser Landen nit verferttigt werden mag" (v. Drach,
Globusuhr 6, A1), — wahrscheinlicher noch Bürgis