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Helm IX. den Kurhut gewünscht. „Der Hut", nach
dem Kellermeister in „Wallenstein" „des Menschen
Zierat", fand' sich. Aber zu „küren" gab's nichts
mehr, als der Reichsdeputationshauptschluß dies
fürstliche Haupt zugleich mit drei anderen schmückte,
drei Jahre vor des Reiches Zusammenbruch, kurz vor
Toresschluß. Es wird keine starke Übertreibung
sein, schon da den Anfang vom Ende zu sehen. Was
folgt, dürfte eine überwiegend rückwärtige Bewegung
zeigen. In allen Ehren gewiß jede Betätigung ur
alter Hessentreue auch im 19. Jahrhundert: die
beiderseits große, ehrliche Freude der Wiederver
einigung von Volk 'und Landesvater 1813 —, das
Heldentum der freiwilligen Jäger und die Mühsal
ihrer festenbrechenden Kameraden mit und ohne
den „Eisernen .Helm" 1814 und 15 —, die heißen
Bemühungen der Besten um Verfassung und Wahl
recht! Aber was mit dem eigensinnigen, von Lis-
sauer verspotteten Zurückschrauben der Geschichte,
dem Streichen der Franzosenjahre durch den ersten
Kurfürsten begann — und in das ebenso eigen
sinnige Zurückhalten der hauptstädtischen Entwick
lung auslief, das war, verschlimmert durch uner
quickliche Eheverhältnisse im Herrscherhaus und —
damit im Zusammenhang — durch ebenso uner
freuliche Beziehungen zwischen Fürst und Vollk
allzusehr im strengen Sinne „Reaktion", um nicht
an den Stützen des Thrones zu nagen.
Nicht freilich, als ob es an Lichtblicken — auch
in den letztgenannten Beziehungen — gefehlt hätte.
Nicht, als ob die Zustände so übel gewesen wären,
daß „Ausländer" zu mitleidigen Gefühlen oder gar
zu „befreienden" Eingriffen Anlaß gehabt hätten.
Der Kurhut war zerfressen, und das Haupt darunter
krankte — oft gekränkt und kränkend zugleich — wohl
in mancher Beziehung. Aber soweit es bei solchem
Kopfleiden möglich, war der Staatskörper gesund.
Tüchtig waren die Beamten, gut und wirksam die
Gesetze. — „Weißt Du, Fritz," soll Wilhelm I. von
Preußen nicht lange vor 1866 zu seinem Kasselep
Vetter gesagt haben, „wir haben keine Polizei
staaten mehr, sondern Rechtsstaaten." „Darum führe
ich auch immer Prozesse," sei die Antwort gewesen,
„habe aber noch keinen gewonnen." In freund
nachbarlicher Überbrückung der Standesunterschiede
wohnten die Bürger „einträchtig beieinander" und
fühlten sich auf den Kasseler Felsenkellern, im
Theater und im „Lesemuseum", auf den Marburgeo
„Terrassen", im Hanauer Wilhelmsbad, beim Hers
felder „Bruder Lolls" und anderwärts nichts weniger
als bedauernswürdig. Wenn aber der Kurfürst
nützliche Bauten verbot, mißliebige Leute nicht auf
kommen ließ, oder auch einen ärztlich verlangten
vierwöchigen Urlaub ins „ausländische" Pyrmont
abschlagend, einen achtwöchigen nach Hofgeismar
bewilligte, so ärgerte man sich. Und wo dann seine
Isabellen auftauchten, flüchtete mancher in die nächste
Haustür.
Mit dem Kurhut mußte dann freilich auch man
ches Altbewährte weichen. Und nicht nur Gemüt
liches, sondern auch wahrhaft Gemüt volles mußte
dem neuen Stand der Dinge zum Opfer fallen.
Daß Giessens damalige Lage und Stellung allzu
reichliches Blutvergießen ausschloß, war zweifellos
erfreulich. Aschaffenburger Verwundete wurden von
dem oben genannten Pfarrer Ebert, dessen Schwieger
sohn, der Husarenrittmeister Heyen, über ihren elen
den Zustand geklagt hatte, besucht und samt ihren
Familien durch eine Geldsammlung unterstützt. Aber
bedauerte die Bürgerschaft nicht npr die Opfer des
Kampfes, sondern die Kämpfenden überhaupt, so
wird eine auf nun längst Vergangenes und Ver
schmerztes zurückblickende Geschichtschreibung gerade
in der Kampflosigkeit jener (nicht im Sinne der
Mutlosigkeit, aber der Führerlosigkeit) kopflosen Tagp
etwas ungemein Wehmütiges, tief Tragisches er
blicken. Eine sechshundertjährige, tatenreiche Ge
schichte im Sande verlaufen, für ein Volk tausend
fach bewährter Krieger eine Waffenruhe ohne Waffen
ruhm, das war das Herbe jener letzten Tage, nicht
der geringste wahrlich unter den „tausend Schmer
zen", von denen Karl Altmüller sang, nicht der
geringste für die mit „der Treue Gold im Herzen".—
Sie haben freilich über ein halbes Jahrhundert
später ungleich größere Bitternis durchkosten und
minder Erträgliches tragen müssen!
Ein näheres Eingehen auf den Gang der dama
ligen Dinge können wir heute guten Geschichts
büchern überlassen, die von Bismarck und dem
Norddeutschen Bund, aber auch von Abbee und
seinen Mitministern, vom Grasen Paar und der
„Fürstin" (von Hanau), von des Kurfürsten Schwan
ken und seinem endgültigen „Nein" zur Genüge be
richten. Die laue Sommernacht der Kriegserklärung,
die Schützengräben am Tannenwäldchen, die Wachen
der Feuerwehr, die erstell preußischen Husaren am
Frankfurter Tor, das sind Erinnerungen, die Pro
fessor Dr. Brunners zur Kasseler Jahrtausend-feier
erschienenes Buch bei den ganz Alten aufleben, Bil
der, die es vor den Jüngeren anschaulich erstehen
lassen wird. Sprichwörtlich ist seit jenen Tagen die
nach Wiener Blättern „affenartige" Geschwindigkeit,
mit der die mitteldeutschen Länder von den Preußen
besetzt wurden. — Eines Oktobertages aber wehen
— „so reinlich und so zweifelsohne"— schwarz
weiße Fahnen an Stelle der rot-weißen, steht der
erste preußische Präsident mit dem Generalgouver
neur von Werder auf dem Balkon des „Roten
Palais", die „Allerhöchste Proklamation" in der
Hand, donnern's die Kanonen, daß sie von nun an
„ultima ratio r e g i s, eines Königs letztes Aus
kunftsmittel" seien, eines Königs, der's freilich in
seiner Herzensgüte „demnächst (nach einem Kasseler
Brief vom 10. August 1867) „selbst dem Volk
sagen" wollte: „es würde nicht so schlimm" (und
das dann auch in herzgewinnender Weise bekundet
hat), — steigt über dem Schloß der Wappenadlev
empor. Und von allen Türmen tönen die Glocken
„Grabgesang" dem „vormaligen Kurfürstentum"
Hessen. — „Unsere hessischen Offiziere", heißt es
in einem Brief vom 7. Oktober, „sind zur Tribüne
der Behörden kommandiert, während das hessische