Full text: Hessenland (38.1926)

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die Bewohner ihr wenig schmeichelhaftes Ansehen 
kannten, war der einzelne besonders darauf bedacht, 
andere anzugeben, um sich reinzmvaschen. So wer- 
den gegen die Katharina Lipps, .,Hausfrau des 
Opfermannes — wie der Lehrer in den mir freund 
lich zur Einsicht überlassenen Akten des Staats 
archives immer genannt wird — Dietrich Lipps" 
sechs Anklagepunkte vorgebracht. Eine Frau behaup 
tet, daß ihr Vater zwölf Jahre krank gelegen hätte, 
weil Katharina Lipps ihn mal auf den Arm ge 
schlagen hätte, worüber er bis in den Tod geklagt 
habe. Ein anderer Dorfbewohner erzählt, daß er 
Angeklagte allgemein für eine Hexe gehalten, „auch 
bei ehrlichen Biedermannsleuten", und daß ihr Ruf 
im Orte kein guter war. 
Das Marburger Gefängnis war nun unser be 
kannter Hexenturm. Die innere Einrichtung eines 
solchen Turmes mit all seinen Scheußlichkeiten ist 
wohl nicht allgemein bekannt, sonst würde man an 
den Fenstern Marburger Kunsthandlungen nicht so 
oft poetische Darstellungen des Turmes sehen, mit 
geigenzupfenden Jünglingen und aus den Fenstern 
holdselig herniederlächelnden Mägdlein. Wir moder 
nen Menschen wissen, daß das Schlimmste an der 
Der Herenturm in Marburg. Zeichnung von W. G. Ritter f. Aus „Hessenkunst" 1919 . Verlag N. G. Eiweri, Marburg. 
sein kleines Mädchen auf dem Arm getragen, als 
die Lehrersfrau hinzugekommen, dein Kinde über 
die Füßchen gestrichen und seine neuen Schuhe ge 
lobt habe. Noch am Abend sei der Fuß bis zum 
Knöchel angeschwollen und jetzt, nach 18 Jahren, 
noch die Narben zu sehen. Eine Bauersfrau gibt wie 
alle anderen ,,8tipn1ata manu" an, daß die An 
geklagte eines Tages zu ihr gekommen sei, um eine 
Nadel von ihr zu leihen; bei der großen Entfernung 
der beiderseitigen Häuser und bei dem Werte, den 
ein solcher Gegenstand damals gehabt, fühlte sie sich 
veranlaßt, die Bitte abzuschlagen, worauf die Au 
geklagte stillschweigend gegangen sei. Als sie gleich 
darnach in den Stall zum Füttern gegangen, hätten 
die beiden Kühe wie tot da gelegen, sich aber später 
wieoer erholt. (Sie hatten wahrscheinlich zuviel 
Gras gefressen.) Ich möchte die Aussagen,nicht alle 
aufzählen, nur bemerken, daß man die 68jährige 
Zuchthausstrafe die Einzelhaft ist. Nun stelle man 
sich eine solche Einzelhaft vor, hinter dicken Mauern 
ohne Wärme und Licht, kein Laut außer den: 
Rascheln der Mäuse und sonstigen Ungeziefers, keine 
menschliche Stimme außer den Roheiten der Wärter, 
keine Hand streicht freundlich über die gequälte 
Stirn, nur ab und zu erschreckt die Berührung einer 
Fledermaus, die in dem Schlupfloche aufgescheucht 
wurde. Auf das Hygienische dieser Türme will ich 
nicht weiter eingehen; daß man sie in alten Proto 
kollen als „Stankloch" bezeichnete, möge genügen. 
Beliebt war es auch, die Angeklagten in den so 
genannten „Block" zu setzen, schwere Eichenbohlen 
mit kleinen Löchern, in die die Beine und Arme 
gezwängt wurden. Kamen die Angeklagten dann 
vor den Richter, so waren sie meistens nicht fähig, 
zu stehen oder die Hand zum Schwure er 
heben.
	        
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