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Worten: „Ei MatthÜ'sche, sie is ja e ganz gewöhn
lich Person", .worauf diese entgegnete: „Ei Herr
Hoppch, Sie sin ja ein ganz gewöhnlicher Kerl",
worauf Hoppch mit erhobenem Finger sie zurecht
wies und sagte: „Matthä'sche, eich huns zuerscht
gesagt." Wenn M. die Kneipe besuchte, so tauschte
alles bis spät in die Nacht — so lange es ging —
seinen Erzählungen.
Ein in Marburger Kreisen noch lange eifrig
besprochenes Ereignis war ein Sülzeessen (auch
Schlachtfest genannt), das im Winter 65/66 der alte
Corpsbruder Müller Lotz, der sich früh vom Stu
dium zurückgezogen und die vom Vater ererbte
Mühle übernommen hatte, seinen Freunden und
älteren Corpsbrüdern gab. Es fand in dem da
mals Schmidt'schen Saal vor dem Barfüßertov
(nur durch eine schmale Gasse von.dem alten Fried
hof getrennt) statt. So zahlreiche Einladungen
waren an Professoren, Beamte, Bürger, ältere Stu
denten, besonders Teutonen ergangen, daß von den
geschlachteten Schweinen sicher nicht viel für die
Räucherkammer übrig geblieben ist. War das Fest
durch die üppige Fülle von leiblichen Genüssen be
deutsam, so wurden diese noch überboten durch die
zahlreichen scherzhaften Veranstaltungen und Auf
führungen, für die schon lange Wochen vorher die
Vorbereitungen in aller Stille eifrig und sorgfältig
getroffen worden waren. Da fehlte nicht die so
genannte Kartosfelkomödie, eine aus Studenten
kreisen stammende Parodie der Grillparzerschen
Ahnfrau, ein Puppenspiel, zu dem die Köpfe der
Figuren aus recht bizarr gewachsenen großen Kar
toffeln ausgeschnitzt waren; das Stück brachte zur
Darstellung, wie der Räuberhauptmann Jaromir,
der sich für den Grafen Kasimir ausgegeben hat und
dem als solchem die Hand der Tochter des edlen
Fürsten Schamutzki versprochen worden ist, durch
einen Brief verraten wird, dann um Rache für die
Auslösung der Verlobung zu nehmen, seinen
Schwiegervater in einer regelrechten studentischen
Mensur mit allem Zubehör erschlägt, darauf auch
seine Braut ermordet und zuletzt, da die Gendarmen
ihn ergreifen wollen, sich selbst tötet. Viele harm
lose Anspielungen auf einzelne Marburger Verhält
nisse und Persönlichkeiten dienten zur Erhöhung
der Lachlust. Die Instrumentalmusik hatten einige
ältere musikalisch gebildete Herren übernommen, die
auf etwas vollkommeneren Kinderblasinstrumenten
ganz vorzügliche Genüsse boten. Es fehlte nicht die
Drehorgel mit einem ernsten Trichinenlied (kurz
vorher hatte die Trichinose in Hedersleben furcht
bare Opfer gefordert), das den wohlgesättigten Fest
genossen die Martern, die ihrer nunmehr harrten,
klar vor Augen stellte. Endlich wurde unter per
sönlicher Beteiligung des Gastgebers eine Reitschule
vorgestellt. Universitätsstallmeister war damals ein
hochangesehener Herr v. B., der auch ein Haus
machte und in dessen Räumen die jungen Stul-
denten, besonders die Reitschüler, angezogen durch
eine junge liebenswerte Tochter, viel und gern
verkehrten. Er selbst, spindeldürr, saß, obwohl er
ein vorzüglicher Reiter war, oft nachlässig zu Roß,
machte eiuen krummen Buckel und forderte durch sein
schwächliches Aussehen zur Nachahmung heraus.
Es kam dazu die Haltung der Reitpeitsche, das
Dreheu des kleinen Bärtchens und dergl. Das alles
hatte der alte Lotz ihm genau abgesehen und er
hatte sich von dem Stallmeister, der selbst zugegen
war, Militärmütze und Reitgerte geliehen und er
schien nun plötzlich auf den Schultern getragen
von einem stämmigen jungen Corpsburschen und
ahmte den Stallmeister'so täuschend nach, daß ein
nicht endenwollendes Halloh erscholl. Der Nach^-
geahmte war so verständig, die Überraschung nicht
weiter übel zu nehmen, sondern selbst herzhaft mit
zulachen. Zum Schluß tanzte dann noch der alte
Lotz einen Schwälmertanz, bei dem er seine Dame,
die hochbetagte Bedienerin seines Wellenbades „Die
Wellengertrud" so hoch im Tanze schwang, daß sie
einmal über das andere Mal ausrief: „Ach Herr
jesses Herr Lutz, net so huch, net so huch!" — Bon
dem Sülzeessen wurde -noch lange in Marburg er
zählt.
Rascher als man gedacht hatte, sollte das
„Krachen", das die Fuldaer Musikanten geahnt
hatten, losgehen. Die sichtbaren Vorzeichen waren
Truppenbewegungen, die man auf dem Marburger
Bahnhof deutlich wahrnehmen konnte. In dem
Streit über die Zukunft der Elbherzogtümer, der
zwischen Preußen und Österreich ausgebrochen war,
hatte die österreichische Regierung die Entscheidung
des deutschen Bundestages angerufen. Das bezeich
nete Preußen als eine Verletzung des Gasteiner
Vertrages, nach dem Österreich die Verwaltung
von Holstein, Preußen die von Schleswig hatte
übernehmen sollen, während Lauenburg gegen Geld
entschädigung an Preußen übergegangen war. Gleich
zeitig mit dieser Erklärung hatte Preußen von
Schleswig aus seine Truppen in Holstein einrücken
lassen. Daraufhin räumten die Österreicher unter
Gablenz Holstein und zogen ihre Truppen in die
Heimat zurück. Sie nahmen auf der Eisenbahn den
Weg über Marburg. Das größte Interesse an diesen
Truppendurchzügen hatte Freund Karl Schwarzkopf,
der überhaupt, obwohl er Mediziner war, in mili
tärischen Dingen, besonders in Uniformfragen ein
Sachverständiger erster Ordnung war. Er fehlte bei
solchen Gelegenheiten niemals auf dem Bahnhöfe.
Kurze Zeit daraus kamen aus. nördlicher Richtung
lange Züge mit nicht uniformierten preußischen
Reservisten. In ihrer Zivilkleidung, ihrer werk-
tägigen Beschäftigungstracht — nur die Offiziere
trugen Uniform — hatten sie wenig Anziehendes.
Wie ganz anders sahen die Leute aus, als sie kurz
nachher militärisch geordnet in nagelneuen Uni
formen von Wetzlar aus in Kurhessen einrückten!
Wenn viele gehofft hatten, die politische Aufregung
werde sich bald wieder legen und es werde wie in
den Tagen von Olmütz zu keinem ernsteren Zn-
sammenstoß kommen, so hatten sie sich gründlich ge
täuscht. In raschen Schlägen folgten.sich die Er
eignisse. Österreich beantragte die Mobilmachung