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Ein hessischer Robinson.
Es war im Jahre 1719, als in London ein Buch
erschien, das in kurzer Zeit einen Erfolg haben
sollte, wie er nur wenigen schriftstellerischen Werken
jemals beschieden gewesen ist. Dies Buch war
Daniel Defoe's „Leben und wunderbare Abenteuer
des Robinson Crusoe"? Der Inhalt des Buches
ist allgemein bekannt. Der Verfasser schildert in
anschaulicher und schlichter Darstellung die Aben
teuer eines von Jugend auf in der Welt herumf-
getriebenen Engländers, der durch Schiffbruch auf
eine menschenleere Insel nahe der Orinoko-Mün-
düng verschlagen wird, sich hier in erfindungsreicher
Art einzurichten weiß und schließlich glücklich nach
seinem Vaterlande heimkehrt. Das Buch fand so
fort in England einen solchen Absatz, daß der Ver
fasser in demselben Jahre noch einen zweiten und
dritten Teil erscheinen ließ. Im zweiten Teil schil
dert er neue Fahrten seines Helden, der nach ereigf-
nisvollen Reisen in Asien sich als wohlhabender
Mann in England niederlassen kann. Noch weniger
als dieser zweite, schon hinter dem ersten stark
zurücktretende Teil fand der dritte Teil Beachtung,
der „Ernste Betrachtungen aus dem Leben Robinson
Crusoes" 2 betitelt, hauptsächlich moralisierende Be
trachtungen enthält. Es ist früher vielfach behaup
tet worden, Defoe habe in seinem Robinson die Er
lebnisse eines schottischen Matrosen Alexander Sel-
kirk geschildert, der im Jahre 1704 wegen be
gangener Freveltaten von seinem Schisfskapitän
auf der menschenleeren Insel Juan Fernandez
gegenüber der chilenischen Küste ausgesetzt wurde
und dort bis zum Jahre 1709 aushalten mußte,
in dem ihn ein englisches Schiss mit zurücknahm.
Das trifft aber nach neueren Untersuchungen nichih
zu. Defoe hat die Abenteuer seines .Helden frei er
funden und sich an Alexander Selkirk, dessen „Leben
und Abenteuer" 3 1828 in London von Howell
herausgegeben wurden, keineswegs angeschlossen.
Aber nicht nur in England fand Defoe's Buch
allgemeiner Anklang und zahlreiche, meist, wie der
„Captain Singleton", längst vergessene Nach
ahmungen; es wurde vielmehr in die Sprache fast
aller gebildeten Völker des Erdballs übersetzt, über
all mit Begeisterung aufgenommen, und nachgebil-
det, nirgerrds aber wohl in dem Umfange wie in
Deutschland. Es hatte bisher an solchen Abenteurer-
Romanen in Deutschland zwar nicht gefehlt; in ge
wissem Sinne kann man schon den ersten Teil des
Gudrunliedes, die Erzählung von der Erziehung
des jungen Hagen, als Robinsonade ansehen, und
auch der Schluß von Grimmelshausens, unseres
Gelnhäuser Landsmanns, Simplicissimus hatte über
die Meere geführt. Trotzdem erschien Defoes Ro
binson als etwas ganz Neues. Schon 1720, erst ein
* Life and stränge surprising adventures of Robin
son Crusoe.
2 Serious reflexions during the life of Robinson
Crusoe.
3 The life and adventures of Alexander Selkirk.
Von A. Moringen.
Jahr nach seinem Erscheinen in England, erschien
das Buch in deutscher Übersetzung, und alsbald
wurden auch, und zwar bis in die neueste Zeit zahl
reiche Nachbildungen verfaßt und veröffentlicht. In
den ersten 30 Jahren nach dem Erscheinen der
Originalausgabe erschienen nicht weniger als 40
deutsche Nachahmungen der verschiedensten Art. Die
erste erschien 1722 in Schwäbisch-Hall unter dem
Titel: „Teutscher Robinson des Bernhard Creutz",
dann folgten in deutscher Sprache ein italienischer,
ein französischer, ein sächsischer, ein schlesischer, ein
niedersächsischer, ein schwedischer, ein schwäbischer,
ein kurpfälzischer, ein ostfriesischer, zwei westfälische,
ein jüdischer und ein Harz-Robinson, ferner aus
neuester Zeit ein österreichischer und schließlich im
Jahre 1848 ein von G. H. von Schubert ver
faßter „Neuer Robinson". Daneben gab es einen
geistlichen, einen medizinischen, einen moralischen,
einen unsichtbaren, den „unter der Masque eines
teutschen Poeten raisonierenden Robinson", „Ro-
bunse mit ihrer Tochter Robinsgen", die „Lebens
beschreibung der europäischen Robinsonette", und als
beliebtestes und wohl auch bestes Werk dieser Art
die von dem stollbergischen Kammersekretär Lud
wig Schnabel 1731 verfaßten „Wunderlichen Fata
einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Jnlii, eines
geborenen Sachsen, welcher in seinem achtzehnten
Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiffbruch selb-
vierte an eine grausame Klippe geworfen worden,
nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt,
sich daselbst mit seiner Gefährtin verheiratet usw.",
die 1827 voll Ludwig Tieck unter dein kürzeren
Titel „Insel Felsenburg" neu herausgegeben wurde.
Zu den weniger bekannten unter diesen zahl
reichen Robinsonaden gehört ein Buch von geringem
Umfange, das uns Glessen besonders angeht. Es ist
wohl nur noch in ganz wenigen Exemplaren vor
handen^ und führt den Titel: „Der neue Hessische
Robinson, oder merkwürdige Abenteuer eines Casse-
laners. Von H. A. Eh. v. Egloffstein. Cassel, 1826.
Verlag der Luckhardt'schen Hofbuchhandlung." Ich
habe das irnnmehr gerade 100 Jahre alte Buch
bisher irirgends erwähnt gefunden; selbst Schoos in
seiner so ausführlichen hessischen Literaturgeschichte-''
kennt es nicht. Das Buch umfaßt 2 Bände in Klein
oktav-Format; der erste Band ist 171, der zlveite
149 (Seiten stark. Der Inhalt sei im folgenden kurz
wiedergegeben:
Ein junger Kasselaner, Ludwig Milde 4 5 6 , der Sohn
eines armen Tagelöhners, zog um das Jahr 1750
4 Die Kasseler Laudesbibliothek und Murhardbibliothek
besitzen je ein vollständiges Exemplar des Buches, die
Bibliothek des Geschichtsvereins nur den ersten Band.
5 Die deutsche Dichtung in Hessen. Studien zu einer
hessischen Literaturgeschichte. Bon Dr. Wilhelm Schoof.
Marburg, Elwert. 1901.
6 Der Name Milde kommt auch heute noch in Kassel
vor. Alten Kasselanern wird der Lehrer an der Partim-
schule Milde noch erinnerlich sein.