Full text: Hessenland (38.1926)

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Ein hessischer Robinson. 
Es war im Jahre 1719, als in London ein Buch 
erschien, das in kurzer Zeit einen Erfolg haben 
sollte, wie er nur wenigen schriftstellerischen Werken 
jemals beschieden gewesen ist. Dies Buch war 
Daniel Defoe's „Leben und wunderbare Abenteuer 
des Robinson Crusoe"? Der Inhalt des Buches 
ist allgemein bekannt. Der Verfasser schildert in 
anschaulicher und schlichter Darstellung die Aben 
teuer eines von Jugend auf in der Welt herumf- 
getriebenen Engländers, der durch Schiffbruch auf 
eine menschenleere Insel nahe der Orinoko-Mün- 
düng verschlagen wird, sich hier in erfindungsreicher 
Art einzurichten weiß und schließlich glücklich nach 
seinem Vaterlande heimkehrt. Das Buch fand so 
fort in England einen solchen Absatz, daß der Ver 
fasser in demselben Jahre noch einen zweiten und 
dritten Teil erscheinen ließ. Im zweiten Teil schil 
dert er neue Fahrten seines Helden, der nach ereigf- 
nisvollen Reisen in Asien sich als wohlhabender 
Mann in England niederlassen kann. Noch weniger 
als dieser zweite, schon hinter dem ersten stark 
zurücktretende Teil fand der dritte Teil Beachtung, 
der „Ernste Betrachtungen aus dem Leben Robinson 
Crusoes" 2 betitelt, hauptsächlich moralisierende Be 
trachtungen enthält. Es ist früher vielfach behaup 
tet worden, Defoe habe in seinem Robinson die Er 
lebnisse eines schottischen Matrosen Alexander Sel- 
kirk geschildert, der im Jahre 1704 wegen be 
gangener Freveltaten von seinem Schisfskapitän 
auf der menschenleeren Insel Juan Fernandez 
gegenüber der chilenischen Küste ausgesetzt wurde 
und dort bis zum Jahre 1709 aushalten mußte, 
in dem ihn ein englisches Schiss mit zurücknahm. 
Das trifft aber nach neueren Untersuchungen nichih 
zu. Defoe hat die Abenteuer seines .Helden frei er 
funden und sich an Alexander Selkirk, dessen „Leben 
und Abenteuer" 3 1828 in London von Howell 
herausgegeben wurden, keineswegs angeschlossen. 
Aber nicht nur in England fand Defoe's Buch 
allgemeiner Anklang und zahlreiche, meist, wie der 
„Captain Singleton", längst vergessene Nach 
ahmungen; es wurde vielmehr in die Sprache fast 
aller gebildeten Völker des Erdballs übersetzt, über 
all mit Begeisterung aufgenommen, und nachgebil- 
det, nirgerrds aber wohl in dem Umfange wie in 
Deutschland. Es hatte bisher an solchen Abenteurer- 
Romanen in Deutschland zwar nicht gefehlt; in ge 
wissem Sinne kann man schon den ersten Teil des 
Gudrunliedes, die Erzählung von der Erziehung 
des jungen Hagen, als Robinsonade ansehen, und 
auch der Schluß von Grimmelshausens, unseres 
Gelnhäuser Landsmanns, Simplicissimus hatte über 
die Meere geführt. Trotzdem erschien Defoes Ro 
binson als etwas ganz Neues. Schon 1720, erst ein 
* Life and stränge surprising adventures of Robin 
son Crusoe. 
2 Serious reflexions during the life of Robinson 
Crusoe. 
3 The life and adventures of Alexander Selkirk. 
Von A. Moringen. 
Jahr nach seinem Erscheinen in England, erschien 
das Buch in deutscher Übersetzung, und alsbald 
wurden auch, und zwar bis in die neueste Zeit zahl 
reiche Nachbildungen verfaßt und veröffentlicht. In 
den ersten 30 Jahren nach dem Erscheinen der 
Originalausgabe erschienen nicht weniger als 40 
deutsche Nachahmungen der verschiedensten Art. Die 
erste erschien 1722 in Schwäbisch-Hall unter dem 
Titel: „Teutscher Robinson des Bernhard Creutz", 
dann folgten in deutscher Sprache ein italienischer, 
ein französischer, ein sächsischer, ein schlesischer, ein 
niedersächsischer, ein schwedischer, ein schwäbischer, 
ein kurpfälzischer, ein ostfriesischer, zwei westfälische, 
ein jüdischer und ein Harz-Robinson, ferner aus 
neuester Zeit ein österreichischer und schließlich im 
Jahre 1848 ein von G. H. von Schubert ver 
faßter „Neuer Robinson". Daneben gab es einen 
geistlichen, einen medizinischen, einen moralischen, 
einen unsichtbaren, den „unter der Masque eines 
teutschen Poeten raisonierenden Robinson", „Ro- 
bunse mit ihrer Tochter Robinsgen", die „Lebens 
beschreibung der europäischen Robinsonette", und als 
beliebtestes und wohl auch bestes Werk dieser Art 
die von dem stollbergischen Kammersekretär Lud 
wig Schnabel 1731 verfaßten „Wunderlichen Fata 
einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Jnlii, eines 
geborenen Sachsen, welcher in seinem achtzehnten 
Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiffbruch selb- 
vierte an eine grausame Klippe geworfen worden, 
nach deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, 
sich daselbst mit seiner Gefährtin verheiratet usw.", 
die 1827 voll Ludwig Tieck unter dein kürzeren 
Titel „Insel Felsenburg" neu herausgegeben wurde. 
Zu den weniger bekannten unter diesen zahl 
reichen Robinsonaden gehört ein Buch von geringem 
Umfange, das uns Glessen besonders angeht. Es ist 
wohl nur noch in ganz wenigen Exemplaren vor 
handen^ und führt den Titel: „Der neue Hessische 
Robinson, oder merkwürdige Abenteuer eines Casse- 
laners. Von H. A. Eh. v. Egloffstein. Cassel, 1826. 
Verlag der Luckhardt'schen Hofbuchhandlung." Ich 
habe das irnnmehr gerade 100 Jahre alte Buch 
bisher irirgends erwähnt gefunden; selbst Schoos in 
seiner so ausführlichen hessischen Literaturgeschichte-'' 
kennt es nicht. Das Buch umfaßt 2 Bände in Klein 
oktav-Format; der erste Band ist 171, der zlveite 
149 (Seiten stark. Der Inhalt sei im folgenden kurz 
wiedergegeben: 
Ein junger Kasselaner, Ludwig Milde 4 5 6 , der Sohn 
eines armen Tagelöhners, zog um das Jahr 1750 
4 Die Kasseler Laudesbibliothek und Murhardbibliothek 
besitzen je ein vollständiges Exemplar des Buches, die 
Bibliothek des Geschichtsvereins nur den ersten Band. 
5 Die deutsche Dichtung in Hessen. Studien zu einer 
hessischen Literaturgeschichte. Bon Dr. Wilhelm Schoof. 
Marburg, Elwert. 1901. 
6 Der Name Milde kommt auch heute noch in Kassel 
vor. Alten Kasselanern wird der Lehrer an der Partim- 
schule Milde noch erinnerlich sein.
	        
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