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Büdingen.
sitzenden Familie sich um die Ohren schlug. Bis die
Bauern sich von dem unerwarteten Hausfriedens
bruch erholten — die Katze hatte es nicht mehr-
nötig —, waren wir drei im offenen Felde.
Nachdem ich mein Schutzgebiet durchforscht hatte,
wählte ich mir eine in etwa 20 Meter Höhe befind
liche Steinbruchsgrotte zu meinem Luginsland. Der
Zugang war halsbrecherisch, wurde aber durch eine
Schwebebrücke, die ich vom Gipfel einer Kastanie
hinüberleitete, für schwindelfreie Kletterer leidlich
gangbar.. Diese luftige, waldumrauschte Höhe, von
wo das Auge das Seemental nebst Stadt und Schloß
Büdingen überblickte, wurde die Geburtsstätte des
Bundes waidmännischer Naturfreunde. An schönen
Frühlingsabenden tranken wir dort oben unsere Mai
bowle und sangen begeistert unsere Lieder in die
Waldnacht hinaus. Meine mator hospitalis hörte
uns stillfröhlich zu, und wenn wir den Vers sangen
von dem silbernen Haar und dem Scheiden müssen,
so dachte sie in stiller Wehmut ihres toten Freun
des, nnt dem sie in ferner Jugendzeit die brasi
lianische Steppe durchritten hatte, und spendete den
Sängern eine Flasche Wein zum Dank. Im all-
geineinen aber legten wir keinen Wert auf gefühl
volle Liebeslieder. Wilhelm Müllers wenig gekann
tes „Jägers Lust": „Es lebe, was aus Erden stolziert
in grüner Tracht" wurde unser Bundeslied. Im
Gegensatz zu den Schülerverbindungen mit ihrem
öden Formalismus hielten wir das Banner des
Idealismus hoch. Literarische Abende hatten wir
eingerichtet, zu denen jeder von uns fünf Prome-
theujen ein Erzeugnis seines schöpferischen Geistes
mitbringen mußte. Herbe Kritik wurde geübt, denn
für jedes Gedicht, das nicht die Gnade der Beisitzer
fand, mußte ein Sümmchen in die Kasse bezahlt
werden. Beispielsweise wurde ein Gedicht auf Bü
dingen, das anhub:
„Es liegt ein Städtchen von Bergen umgeben
Am rauschenden Bach in grünender Flur,
Auf sonnigen Hügeln wachsen Reben,
Im Tale leuchtet der Ceres goldene Spur"
als sklavische Anlehnung jm Schiller schonungslos
verdonnert. In einem Heldenepos „Hannibal", in
dem es von seinen lybischen Kriegern vor der
Schlacht bei Kannä heißt:
„Schwarz von 5zaut und Glut in Augen
Schaun sie über'n Fluß hinüber,
Wo die Lagerfeuer rauchen
Von Italiens Legionen"
fanden die Reime „Augen" und „rauchen" nicht die
Billigung des gestrengen, in des Meisters Opitz Fuß
stapfen wandelnden Femgerichts. Hatte sich auf
diese Weise genügend Mammon angesammelt, so
zogen wir aufs Dorf hinaus und hielten ein solennes
Gänseessen ab oder wir wanderten ins Preußische nach
Gelnhausen und delektierten uns an einem knuspe
rigen Spanferkel. Während des Festessens wurde das
Los geworfen, und der Unglücksmann, den es traf,
mußte der Gans oder dem Spanferkel die Grabrede
halten. Wurde diese oratorische Leistung von den
inzwischen mit gewaltiger Schnelligkeit schluckenden
Leichengräbern nicht für witzig genug befunden
— und meistens war dies der Fall —, so mußte der
bedauernswerte Demosthenes obendrein Strafgeld in
die Kasse zahlen, das den Grundstock zum nächsten
Gänseessen bildete.
Eichendorff, der Sänger des deutschen Waldes,
war unser Heiliger. Wie mancher klassische Philo
loge seinen Horaz, so hatten wir auf unsern Fahrten
Eichendorffs Werke als stete Begleiter im Rucksack.
Jm Vogelsberg, Spessart, Odenwald, im Franken
land und Neckartal waren wir redlich bestrebt, den
Taugenichts unseres Meisters in die Praxis zu über
tragen. In Forst- und Pfarrhäusern, auf Gutshöfen
wie bei den Bauern, überall waren wir damals als
fahrende Schüler gern gesehene Gäste. Heute, wo
selbst das fernste Tal von den mit Kling, Klang
und Gloria umherziehenden Rotten vergewaltigt
wird, hat Wald und Wandern für jeden wahren
Freund der Natur einen guten Teil seiner stillen
Schönheit eingebüßt.