Full text: Hessenland (37.1925)

Siebenhundertjahrfeier der Stadt Witzenhausen. 
In einer lateinischen Lebensbeschreibung des 
Landgrafen Ludwig des Heiligen von Thü 
ringen, die von dem Reisekaplan des Land 
grafen verfaßt und in deutscher Übersetzung 
von etwa 1330 noch vorhanden ist, wird 
zum Jahre 1225 berichtet, „daß der Land 
graf tu der Osterwoche einen neuen Jahr- 
markt zu Witzeuhausen ausrufen ließ, der zu 
vor nicht vorhanden gewesen war", und in der 
Reinhardsbrunner Klosterchronik heißt es: 
„Am Ostertage (1225) errichtete der Land 
graf in Witzenhansen einen Jahrmarkt und 
einen gemeinen Markt zum Einkauf der für die 
Menschen notwendigen verkäuflichen Sachen." 
Mit der Verleihung der Marktrechte wurde 
der Grundstein für das Aufblühen und das 
weitere Gedeihen Witzenhaufens gelegt. Witzen- 
haufen wurde Marktort. Es schützte sich du'rch 
Mauern und Türme und erlangte damit Stadt- 
eigenschaft. Markt uitb Stadt — forum und 
civitas — waren zur damaligen Zeit nur zwei 
Namen für ein- und denselben Begriff. Markt 
rechte und Stadtrechte sind als schlechthin 
gleichbedeutend anzusehen (vgl. Politische Ge 
schichte der Stadt Witzenhausen von Dr. jur. 
Carl August Eckhardt, Festschrift zum 700- 
jährigen Bestehen der Stadt Witzenhausen, 
Seite 14). 
Diese geschichtliche Tatsache bildete für die 
städtischen Körperschaften den Anlaß zu dem 
Beschluß, das 700 jährige Bestehen der Stadt 
Witzenhausen festlich und in einem der Be 
deutung einer solchen Stadtfeier entsprechend 
groß angelegten Rahmen zu begehen. 
Man könnte mit Recht fragen, und diese 
Frage wird tatsächlich von vielen Kritikern 
ausgeworfen, ob die gegenwärtige Zeit mit 
ihren wirtschaftlichen Nöten und Schwierig 
keiten und ihren inner- und außerpolitischen 
Zuständen die Abhaltung einer solchen Stadt 
feier rechtfertigt. Zweifellos müßte diese Frage 
verneint werden, wenn der Zweck einer solchen 
Feier uur der wäre, zu feiern und eine Ge- 
legenheit zu einer dein Vergnügen und dem 
Geldausgeben gewidmeten Veranstaltung zu 
finden. Wäre dies der Zweck auch unserer 
Stadtfeier, dann wäre es nicht zu verstehen, 
daß die für die Geschicke der Stadt verant- 
wortlichen Organe ihre Zustimmung zu einem 
solchen Fest, besonders auch in einer Weise, 
wie sie das Festprogramm vorsieht, geben konn 
ten. Der Feier des 700 jährigen Bestehens der 
Stadt Witzenhausen liegt aber selbstverständ 
lich ein tieferer Sinn zu Grunde. Gerade die 
Gegenwart, auf der die...Schwere des hinter 
uns liegenden gewaltigen und verlorenen .Krie 
ges und der Nachkriegszeit lastet, die das 
deutsche Volk arm gemacht und vielen den 
Glauben an die Menschheit und ihre eigene 
Kraft genommen- hat, bedarf der Stärkung 
und der Erbauung. Es gilt, im Hasten und 
Treiben der Welt uitb in den vielen Mühen 
und Sorgen, die der Alltag mit seinen Küm 
mernissen und Beschwernissen für jeden ein 
zelnen unter uns bringt, einmal stille zu stehen 
und Rückschau zu halten auf die hinter uns 
liegende lange Zeit von sieben Jahrhunderten 
mit ihrer für uns so bedeutsamen Geschichte. 
Die Siebenhundertjahrfeier soll uns die Kraft 
so recht vor Augen führen, die unsere Vor 
fahren trotz aller Wirrnisse und Schwierig 
keiten der Zeit beseelt und ihnen den Mut ver 
liehen hat, über alle Not und Kriegsschrecken 
hinweg weiter zu arbeiten und erfolgreich zu 
schaffen. Ein Bild deutscher Kultur, geschaffen 
und gefördert in 700 Jahren, soll sich vor 
unseren Augen entrollen und uns an ihren 
Schöpfungen, die noch heute in den uns über 
lieferten und erhaltenen wertvollen Kunst 
bauwerken vergangener Zeitepochen zu uns 
sprechen, erbauen und Mut finden lassen zu 
weiterem Schaffen und Ringen, wie es' die 
uns vom Schicksal zugewiesene Aufgabe uach 
mic vor ist. Das Fest soll aber auch ein Heimat 
fest werden, um der Liebe aller derer, die mit 
Witzenhausen durch verwandtschaftliche und 
Freundschaftsbande und sonstige Beziehungen 
verbunden sind, zu der ihnen ans Herz ge 
wachsenen Heimat- und schönen Werrastadt 
Ausdruck zu geben. All denen, die im Lebens 
kampf die ihnen bis in das Innerste ihres 
Herzens liebgewordene Heimat haben verlassen 
müssen und ihr Heiin draußen in der Welt 
innerhalb und außerhalb der Grenzpfähle un 
seres Vaterlandes und über das Meer hinaus 
aufgeschlagen haben, soll die Feier Gelegenheit 
geben, wieder einmal an trauter Heimatstätte 
zu weilen, um sich echter deutscher Heimat 
gefühle zu erfreuen. Aber auch du weiterer 
Grund war für die Entschließung, die 700- 
Jahrfeier festlich zu begehen, nicht unbeachtlich. 
Die hinter uns liegende schwere Zeit hat als 
Folge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten uitb 
des Parteihaders und der hierdurch beein 
flußten seelischen Verfassung manches Freun 
desband zerrissen und oftmals über Kleinig- 
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