zu gehen; meist hatte ich schon mein Lager auf
gesucht, wenn sie hinter ihrer Wand verschwand.
Einmal hörte ich, wie sie sagte: „Du könntest es
doch wissen, Wilhelmine, daß ich alles zu seinem
Empfang bereit habe. Es ist mir zwar widerlich, zu
denken, daß ihn der Mönch zurückbringen soll; du
kannst mir glauben, der hat nie etwas Gutes ge-,
stiftet! Mir hat er bestimmt mein Glück verbaut.
Wäre er damals nicht auf der Bildfläche erschienen,
hätte ich die Mutter deines Sohnes werden können
. . . So, so — du glaubst, das hätte nicht in des
Doktors Lebenslauf gehört? Ach, der Hochmut, der
Hochmut! Aber zu Eberhards Empfang ist alles
bereit. Du könntest es nicht besser machen als ich."
„Wen wollen Sie empfangen, Muhme?" fragte
ich erregt. Sie trat hervor und sah mich erstaunt
an: „Was weißt du davon?"
„Mir war, Sie sprachen etwas von einem Besuch."
„Sprach ich wirklich mit dir davon?"
Ihre braunen Augen blitzten mich strafend an.
Ich hatte nie eine Vorliebe für braune Augen, sie
schienen mir immer seelenlos zu sein. Heute sahen
die Augen der Muhme aus, als wären sie von
innen her beleuchtet. Die Muhme war neunund
fünfzig Jahre alt, sie hatte ein lückenloses Gebiß,
und ihr Haar war nur wenig ergraut; deshalb sah
sie jünger aus als sonst Frauen in ihrem Alter;
zumal Gang und Haltung straff geblieben waren.
„Sie sollten vor mir kein Geheimnis haben,
Muhme, wenn es sich um Eberhard handelt. Ich
sehne mich nach ihm, solange ich denken kann."
. Nun kam sie zu mir, setzte sich auf meine Bett
kante und nahm ergriffen meine Hand. „Das war
ein gutes Wort, Mädchen. So — du sehnst dich
nach ihm? Dein Vater tut es auch, wenn er sich's
auch nicht merken läßt, und ich, die ihn besser kennt,
als ihr alle, genau so liebt wie eine Mutter^ ich
sehne mich so sehr, so sehr und wünsche ihn her.
Wollen sehen, ob meine Sehnsucht nicht stärker ist
als der Wille des Priors."
„Was will der, Muhme?"
„Er war es, der damals, als das Übel geschah,
als der Eberhard — zum Dieb wurde — sieh mich
nicht so entsetzt an! Wir sind wohl alle Diebe und
Räuber, es kommt nur nicht jeder gleich auf die
Anklagebank also damals war es der Prior,
der da wollte, daß er arm übers Meer fahren sollte,
um in harter Arbeit zu büßen. Steine solle er
tragen zu einem Bau! Wenn der Bau unter Dach
und Fach sei, solle er wiederkommen. Wenn einer
so viele, viele Jahre schon baute, muß er doch
endlich fertig sein und heimkommen."
Aus Heimat
Hessischer Geschichtsverein. Der erste
Sommerausflug des Kasseler Vereins am 17. Juni
galt dem eingemeindeten Vorort Kirchditmold. In
der dortigen Kirche gab zunächst Lehrer Halber st adt
einen Rückblick aus die alte Geschichte des Ortes, an die
den Besucher schon der Name der Zentgrafenstraße und
der als alte Gerichts- oder Malstätte angesprochene
„Wir warten gemeinsam auf ihn", sagte ich
begütigend. —
Einige Wochen danach starb die Muhme. Sie
hatte vergeblich gewartet. Dann erkrankte mein
Vater. Ich pflegte ihn, er lag fast ein Jahr an
einer das Leben lähmenden Blutzersetzung fest zu
Bett. Und wie es geschieht, wenn ein rastlos
tätiger Mensch plötzlich von der Welt und seinem
,Werk abgeschieden ist — er wurde mitteilsam, er
zählte auch von seinem Sohn, von seiner Ver
fehlung und den Unternehmungen zu seiner Besse
rung.
Es war an einem stürmischen Tag im Februar,
am zwanzigsten dieses Monats, als ich in der
Dämmerung am Bett meines Vaters stand, um
ihm ein Glas Wein zu reichen. Es stürmte draußen,
der Wind kam von Südwesten und stieß gegen die
Fenster und rüttelte an dem Schindelbehang deL
Seitenflügels, heulte im Schornstein und blies die
Flamme der Holzscheite durch die Zuglöcher der
Ofentür, da hörte ich Schritte auf der Galerie, hörte
die Doppeltür des Ausgangs, der dorthin führte,
öffnen; sie wurde nur nachts abgeschlossen. Ich
stellte das Glas zur Seite, faßte nach der Klinke
der inneren Tür und sah durch die Scheiben eine
männliche Gestalt, ein Männerantlitz mit den Zügen
des Mönches. Ich schrie laut auf: „Eberhard!",
hörte einen scharfen Knall, als ob ein harter Gegen
stand auf Steinboden fällt, und dann kniete mein
Bruder am Bett des Kranken. Ich faßte mich
mühsam, zündete Licht an. Ja, er war zurück, ein
Mann, durch harte Arbeit entsühnt. Tie Lebens
flamme meines Vaters flackerte noch einmal auf,
für Tage, ein trügerisches Hoffen. Aber in diesen
Tagen lernten wir drei den Begriff Ewigkeit schätzen.
Und das Bild des Mönches? Das schöne Pastell
lag in Trümmern am Fußende des Bettes. Die
Glassplitter hatten das Antlitz mit den Augen,
aus denen heiliges Leben strahlte, vollkommen ver
nichtet.
Aber der Heimgekehrte glich fast Zug um Zug
dem zertrümmerten Bild, nur daß sein Antlitz durch
die Spuren seelischer Kämpfe schärfere Konturen
angenommen hatte.
Mein Bruder blieb nur ein Jahr in der alten
Heimat. Es zog ihn in das Land zurück, in dem
er durch harte Arbeit zum Menschen geworden war,
der die Anfechtung überwand.
Mir aber ist seitdem alle Erdenangst und Not im
Licht der Ewigkeit erschienen; ich liebe mein Schick
sal als Stufe zur Vollendung." — — —
So die alte Malwine. Segen ihrem Andenken!
und fremde.
Lindenberg erinnern. Schon der hl. Heimerad hat 1019
in der Kirche zu Kirchditmold gepredigt. Der dortige
Priester war Vorsteher eines alle Kirchen vom Habichts
wald bis nach Münden umfassenden Dekanats. Vor
einigen Jahrzehnten waren noch vier Gemeinden dort
eingepfarrt. Die alte Kirche stand mit dem Friedhofe
hinter der heutigen neuen Knabenschule. 1787 wurde