Full text: Hessenland (36.1922)

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und so erschien 1612 ein weiteres Werk des Landgrafen 
„Christliches Gesangbuch von allerhand geistlichen P>al- 
inen und Liedern, so von Dr. M. Luther und arideren 
gottseligen Männern gemacht, von Landgraf Moritz mit 
etlichen lieblichen Melodien vermehrt". Hier also kehrt 
er zu dem Schatz des deutschen protestantischen Kirchen 
liedes zurück. Seine Kompositionsart ist übrigens ge 
wandt und fließend, seine Melodien haben etwas spezifisch 
Volkstümliches. Auf jeden Fall verdient er unter den 
Komponisten des angehenden 17. Jahrhunderts genannt 
zu werden als eine typische Übergangsgestalt in der Ge 
schichte der Musik. Wenn auch seine Bemühungen um 
die Einführung des calvinistischen Kirchengefangs ver 
geblich waren, so verdienen doch seine Leistungen auf 
dem Gebiet der Musik eine eingehende Würdigung. Auch 
darf man nicht vergeben, daß er es >var, der den be 
deutendsten Komponisten des 17. Jahrhunderts schon 
an den Pranken erkannt und gefördert hat, nämlich 
Heinrich Schütz, auf dem ein Bach und Händel aufbauen. 
Die sich an den Vortrag anschließende Aussprache, an 
der sich Zolldirektor W o r i n g e r, Bibliotheksdirektor 
Dr. Hopf, Studienrat Dr. Fuckel und Regierungs 
rat S t o l l beteiligten, brachte noch allerhand Ergän- 
gänzungen und Anknüpfungen. So u. a., daß in der 
niederhessischen Kirche noch Formen beibehalten wurden, 
die sonst nur der lutherischen Kirche angehörten; dazu 
gehörte vor kurzem noch das Räuchern und ferner das 
Gebet vor Einnahme des Platzes in der Kirche. Ferner, 
daß der in Hessen und besonders in der Schwalm häufige 
Name Weckesser damals als Spottnamen für die Prote 
stanten verwandt wurde, da sie keine .Hostie, sondern Brot 
aßen. Die Schmalkalder Bewegung zitterte noch in dem 
Bericht des Chronisten Geisthirt nach. Der Grundstock 
der ausgedehnten musikalischen Sammlung der Kasseler 
Landesbibliothek geht aus Moritz zurück, dessen Einfluß 
auf das Musikleben in Kassel und Hessen nach lange 
nicht gebührend untersucht ist. Die nächste Anregung 
für den Calvinismus erhielt der Fürst außer von 
seinem Erzieher Cruciger tvohl durch Calvins Nach 
folger de Brtzze. Moritz hat dann eine ganze Reihe 
junger Mitglieder der hessischen Ritterschaft mit Stipen 
dien nach Genf geschickt. Die dortige Bibliothek besitzt 
noch einen Band mit Wappen und Namensunterschrift 
von etwa 200 hessischen Studenten aus dem 16. bis 
18. Jahrhundert. Anknüpfend an frühere Veröffent 
lichungen in der „Halleschen Zeitung" von einem Teil 
nehmer an dem Gefecht von Bronzell entwarf General 
E i s e n t r a u t ein anschauliches Bild dieses vielgenann 
ten Scharmützels aus der Zeit der Bundesexekution und 
seiner geschichtlichen Voraussetzungen und Nachwirkungen. 
Der sagenumwobene Schimmel von Bronzell bildete den 
Gegenstand lebhafter Diskussion. Studienrat Dr. Fuckel 
ergänzte seine früheren Ausführungen über die Pilger 
reise des Grafen Philipp von Katzenellenbogen dahin, 
daß eine Schilderung dieser Reise in der „Zeitschrift für- 
deutsches Altertum" abgedruckt ist und ein.weiterer Be 
richt auf der Gießer Bibliothek vorhanden ist, nach dem 
er noch eine Anzahl kulturhistorisch bemerkenswerter Er 
gänzungen gibt. Vorgezeigt wurde das künstlerisch aus 
geführte Notgeld der Stadt Schmalkalden sowie eine 
Reihe älterer Flugblätter und Schriftstücke. 
- In der stark besuchten Monatsversammlung des K a s - 
s e l e r Vereins am 16. Januar hielt Bezirkskonservator 
Baurat Dr. Holtmeyer einen durch zahlreiche Licht 
bilder unterstützten Vortrag über die S t a d t b e f e st i - 
g u n g von Kassel. Darüber, daß Kassel zur Blüte 
zeit des deutschen Festungsbaues eine der bedeutendsten 
Festungen Deutschlands war, kann kein Zweifel bestehen. 
' Wir wissen es aus zahlreichen Reisebeschreibungen jener 
Zeit, und auch alte Abbildungen, besonders des 17. Jahr 
hunderts, stellen die Stadt immer in ihrem Charakter 
als Festung dar. Aber alle diese Abbildungen reichen 
nicht aus, uns von der ursprünglichen Befestigung ein 
Bild zu geben, das wir nur noch auf rekonstruktivem 
Wege finden können, indem wir uns klar machen, welche 
Bedingungen für die Anlage der Tore und Mauern 
gegeben waren, welche Wege nach Kassel führten und 
wo diese das Stadtbild verließen. In Kassel kreuzten 
sich zwei große Heerstraßen, die sich auf dem Altmarkt 
schnitten. Die eine, vom Main kommend, führte vom 
Altmarkt aus links nach Holland, rechts zur Weser; 
der zweite Weg war die Straße von Thüringen und 
Sachsen zum Rhein, also die alte Leipziger Straße, 
die über den Altmarkt zur Kölnischen Straße führte. 
Die Hauptstraße, die Herrengasse (Wildemannsgasse) 
war auf den alten Königshof an der Stelle des jetzigen 
Justizpalastes eingestellt; der Name des Steinwegs 
bezeichnet eine der ivenigen Straßen, die Steinpflaster 
besaßen. Die Siedlung von 1150 besaß zuerst Mauern 
und Türme, und somit auch Tore. Zunächst das 
Zwehrentor, das aber damals noch der Burg gegenüber 
lag, etwa an Stelle des alten Hofmarschallgebäudes 
(Schloßplatz 15). Es wird 1269 erwähnt. In der jetzigen 
Marktgasse lag das sog. Markttor; der Absatz am 
Schützenhaus bildete gleichsam die Taille, um den Ver 
kehr künstlich einzuengen und so dem Torwärter die 
Kontrolle zu erleichtern. Dieselbe Einschnürung im 
Straßenbild zeigt uns noch die Lage des alten Mühl 
häuser Tores am Ausgang der nach dem ehemaligen 
Torf Mühlhausen führenden Herrengasse. Das Wo'lfs- 
anger-, später Ahnaberger- und dann Wefertor genannte 
Tor lag an der jetzigen Klosterstraße. 1330, also zur 
Zeit der Blüte deutscher Städtebaukunst, fand, eine Er 
weiterung der Stadt durch die „Freiheit" statt; die 
Bezeichnung rührte daher, daß den künstlich zugezogenen 
neuen Einwohnern unter der Bedingung, daß sie sich 
anbauten, gewisfe Freiheiten beim Bau und auch Steuer 
freiheit zugesichert wurde. Damals entstand der „Graben", 
in dessen auf der Nordseite gelegenen Häusern die Höfe 
vielfach tiefer liegen, tveil hier der alte Stadtgraben 
bis zum Rande aufgefüllt werden mußte. Ein Stück 
der mittelalterlichen Stadtmauer ist noch in den Häu 
sern der „Kolonnaden" erhalten. Die Entwickelung der 
Feuerwaffen machte auch eine Verstärkung der Festung 
notwendig. Der Bering der Stadt wurde nun bezeichnet 
durch einen Turm an der Stelle der jetzigen Kriegsschule, 
ferner den Druselturm, das hohe Tor, den Breulturm, 
das Müllertor, den Knickturm am Ende der Knickgaße, 
das Wolfsanger Tor am Ende der Fliegengasse, den nach 
den Jungfrauen des Ahnaberger Klosters benannten 
Jungfernturm und das Brückentor am jetzigen Zaiten- 
stock neben dem Wimmelhaus. Der Turm des Zwehren- 
tores bildete das Gefängnis für die besseren Stände, 
besonders für vornehme Gefangene vom Hof; 1568 
war dort z. B. ein Pfarrer von Kleinenglis untergebracht, 
1606 sollte der Hofjunker von Holzhausen ebenfalls dort 
festgesetzt werden, entzog sich dem Gewahrsam jedoch durch 
die Flucht. Der berühmteste Gefangene des Zwehren- 
turmes tvar der Hofjunker Rudolf von Eckardsberg, der 
1615 den Hofmarschall von Hertingshausen erschossen 
und dem dafür vor den Augen des Landgrafen Moritz 
auf dem Marställer Platz bei lebendigem Leibe das Herz 
herausgerissen wurde. Die Legende läßt, wie im Ahna 
berger Tor, auch im Zwehrentor die Eiserne Jungfrau 
untergebracht sein; allerdings wurde auf dem Boden 
der jetzigen Landesbibliothek vor Jahren eine Folterbank 
und andere Marterinstrumente gefunden, die sich jetzt im 
Landesmuscum befinden. Der an der 'Außenseite des
	        
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