senkten Hauptes stand er lange da und starrte auf
den düstern Hinterhof hinab. Undeutlich nur ließen
die winzigen halbblinden Scheiben die Umrisse eines
baufälligen Stallgebäudes, die Dungstütte davor
und eine Schlachtbank hervortreten. Dies uner
freuliche Bild ließ den Kallmen seine trostlose Lage
noch drückender empfinden. Er seufzte. Warum war
er dem lockenden Trugbild gefolgt, das ihn in
jungen Jahren in die Ferne hinausgezogen hatte?
Er hatte nicht wie die andern Stammesgenossen
mit dem Sack oder dem Ranzen über Land gehen
wollen — er hatte geglaubt, in der Fremde sein
Glück machen, sich eine höhere Bildung aneignen,
bessere Lebensbedingungen schaffen zu können. Und
nun? Krank und ärmer als er hinausgegangen,
war er wiedergekehrt, sein bißchen Vermögen, seine
Jugend, seine Hoffnungen — alles hatte er draußen
gelassen. Und die Glaubensgenossen, die sich an
dem ihnen zugefallenen Lose hatten genügen lassen,
die Tag für Tag mit dem Sack auf dem Rücken
oder mit dem Lenkseil in der Hand, auf der Land
straße gegangen waren, die niemals etwas anderes
begehrt oder ersehnt hatten, sie alle hatten, wenn
auch nicht ein großes Vermögen, so doch ihr Aus
kommen. Ein jeder von ihnen hatte heute seine
Schabbesmahlzeit im Backofen, nur er, der Hoch
strebende, der Idealist, er hatte morgen Fasttag,
einen Fasttag, den weder das Gesetz, noch seine
religiösen Bedürfnisse ihm vorschrieben. Mit dem
Gedanken an die im Backofen schmorenden Schabbes-
gerichte wurde der Hunger in Kallmen rege, er
hatte auch heute noch nicht viel gegessen.
Mit jähem Ruck wandte er sich voni Fenster und
trat an den kleinen Wandschrank neben der Stuben
tür. Dieser barg noch ein Stück knüppelharter
Rindswurst und einen Schnapsrest. Damit und mit
dem vorher gekauften Brot stellte er sich ein karges
Abendessen zusammen. Während des Kauens fiel
es ihm ein, daß er die Beile im Backhaus nicht
gesehen hatte, sie mochte ihren Kochtopf wohl durch
eine andere haben besorgen lassen. Vielleicht lud
die oder ihr Mann, der Hirsch, ihn zu morgen ein,
wenn sie ihn sähen. Er klappte sein Taschenmesser
zusammen und machte sich auf den Weg zu Hirsch
und Beile, die mit im Hause der Blümchen wohnten.
Die Beile lag unpäßlich zu Bette und drehte das
Gesicht nach der Wand, als der Kaltmen eintrat.
Der Hirsch aber, der bei der Schabbestoilette war,
benahm sich so steif und ablehnend, wie das frisch
gestärkte Vorhemdchen, das er heute ohne Beilens
Mitwirkung anlegen mußte. So wußten sie's also
auch schon, daß er trefe gegessen hatte.
Der Kallmen saß eine Weile auf dem Bretter
stuhl, den man ihm nicht angeboten hatte, tat durch
aus harmlos und versuchte, eine Unterhaltung in
Fluß zu bringen, aber es wollte nicht gelingen.
Dann kam der „Schulklöpper", klopfte unten bei
der Blümchen herzhaft ans Fenster und rief von
der Straße herauf auch gleich dem Hirsch zu, daß
es ZeitZei, „Schulen zu gehen". So sah der Kall
men sich genötigt, sich -zu verabschieden. Langsam
stieg er die Treppe hinab, die letzte Hoffnung auf
eine warme Schabbesmahlzeit ließ er oben. Der
Blümchen Stubentür stand offen, und im Vorbei
gehen sah Kallmen, daß das Zimmer leer war.
Der Blümchen und ihres Mannes Stimme klangen
vom Hinterhof herein. In seinen Gedanken ver
loren blieb der Kallmen einen Augenblick stehen,
ohne daß er's wußte. Da fiel sein Blick auf einen
kleinen Schlüssel, der, zusammen mit einer Holz
kugel auf einen Riemen geschnürt, unter dem Spiegel
in Blümchens Stube hing. Das war der Schlüssel
zum Backofen, den die Blümchen heute in Ver
wahrung hatte. Ein teuflischer Gedanke sprang in
Kallmen auf —, wenn er den Schlüssel an sich
nähme — — ?
Mit zwei langen, katzenleisen Schritten war er
im Zimmer, nahm den Riemen mit dem Schlüssel
von der Wand und ließ ihn in die Hosentasche
gleiten. Im nächsten Augenblick war er draußen,
fest hielt seine Rechte den Schlüssel in der Tasche
umschlossen.
Vor dem Hause standen die beiden kleinen Mäd
chen Blümchens, frisch gewaschen und gekämmt, in
ihren Schabbeskleidchen. Sie kamen auf ihn zu,
als sie den Kallmen sahen, und die jüngere hielt ihm
das perlgestickte Umhängetäschchen entgegen, das ihre
Raritätensammlung enthielt. Der Kallmen/ als
Kinderfreund, besah mit vielem Interesse und be
wunderte ausgiebig eine leere Nähgarnrolle, ein
neues Pfennigstück, eine Hahnenfeder, ein Stück
chen rotes Glas, ein Bröckcheu Apfelsinenschale
'und ein paar bunte Wollfäden.
Allmählich kamen die Glaubensgenossen aus Häu
sern und Gassen hervor, um „Schulen zu gehen".
Auch der Kallmen nahm nun seinen Weg zur>
Synagoge und setzte sich auf eine der letzten Bänke.
Da hatte er sie alle vor sich, die, auf die er tief
herabsehen zu dürfen glaubte, und die ihrerseits,
doch ihn verachteten — er fühlte es wohl. Aber
heute — hatte er sie in der Gewalt! Fest um*
klammerten seine Finger den Schlüssel in seiner
Tasche, seine Gedanken flogen zu den jetzt wohl
gemächlich brodelnden Töpfen im Backofen. Und
er lächelte, boshaft, schadenfroh.
*
Hell strahlte am andern Morgen die Frühlings
sonne auf all die Gerechten, die da in der Synagoge
so brünstig gebetet und so herzerhebend gesungen
hatten. Sie schien auch auf den Kallmen so freund
lich, als wolle sie ihn dafür schadlos halten, daß er
heute früh sein Stück trocknen Brotes nicht in eine
Tasse heißen Kaffees hatte brocken können, und daß
alle die frommen, streng nach dem Gesetz lebenden
Stammesbrüder kalt und hochmütig an ihm vorüber
sahen. Gemächlich, beide Hände in den Hosen
taschen, den Hut im Nacken oder auf einem Ohr,
schritten die Männer heimwärts. Eiliger hatten es
die Frauen, am eiligsten die Blümchen. Zu Hause
legte sie den Machsor auf den Tisch und band sich
eine Schürze vor. Während sie mit der Linken
noch an sich nestelte, griff sie mit der andern Hand