Full text: Hessenland (36.1922)

senkten Hauptes stand er lange da und starrte auf 
den düstern Hinterhof hinab. Undeutlich nur ließen 
die winzigen halbblinden Scheiben die Umrisse eines 
baufälligen Stallgebäudes, die Dungstütte davor 
und eine Schlachtbank hervortreten. Dies uner 
freuliche Bild ließ den Kallmen seine trostlose Lage 
noch drückender empfinden. Er seufzte. Warum war 
er dem lockenden Trugbild gefolgt, das ihn in 
jungen Jahren in die Ferne hinausgezogen hatte? 
Er hatte nicht wie die andern Stammesgenossen 
mit dem Sack oder dem Ranzen über Land gehen 
wollen — er hatte geglaubt, in der Fremde sein 
Glück machen, sich eine höhere Bildung aneignen, 
bessere Lebensbedingungen schaffen zu können. Und 
nun? Krank und ärmer als er hinausgegangen, 
war er wiedergekehrt, sein bißchen Vermögen, seine 
Jugend, seine Hoffnungen — alles hatte er draußen 
gelassen. Und die Glaubensgenossen, die sich an 
dem ihnen zugefallenen Lose hatten genügen lassen, 
die Tag für Tag mit dem Sack auf dem Rücken 
oder mit dem Lenkseil in der Hand, auf der Land 
straße gegangen waren, die niemals etwas anderes 
begehrt oder ersehnt hatten, sie alle hatten, wenn 
auch nicht ein großes Vermögen, so doch ihr Aus 
kommen. Ein jeder von ihnen hatte heute seine 
Schabbesmahlzeit im Backofen, nur er, der Hoch 
strebende, der Idealist, er hatte morgen Fasttag, 
einen Fasttag, den weder das Gesetz, noch seine 
religiösen Bedürfnisse ihm vorschrieben. Mit dem 
Gedanken an die im Backofen schmorenden Schabbes- 
gerichte wurde der Hunger in Kallmen rege, er 
hatte auch heute noch nicht viel gegessen. 
Mit jähem Ruck wandte er sich voni Fenster und 
trat an den kleinen Wandschrank neben der Stuben 
tür. Dieser barg noch ein Stück knüppelharter 
Rindswurst und einen Schnapsrest. Damit und mit 
dem vorher gekauften Brot stellte er sich ein karges 
Abendessen zusammen. Während des Kauens fiel 
es ihm ein, daß er die Beile im Backhaus nicht 
gesehen hatte, sie mochte ihren Kochtopf wohl durch 
eine andere haben besorgen lassen. Vielleicht lud 
die oder ihr Mann, der Hirsch, ihn zu morgen ein, 
wenn sie ihn sähen. Er klappte sein Taschenmesser 
zusammen und machte sich auf den Weg zu Hirsch 
und Beile, die mit im Hause der Blümchen wohnten. 
Die Beile lag unpäßlich zu Bette und drehte das 
Gesicht nach der Wand, als der Kaltmen eintrat. 
Der Hirsch aber, der bei der Schabbestoilette war, 
benahm sich so steif und ablehnend, wie das frisch 
gestärkte Vorhemdchen, das er heute ohne Beilens 
Mitwirkung anlegen mußte. So wußten sie's also 
auch schon, daß er trefe gegessen hatte. 
Der Kallmen saß eine Weile auf dem Bretter 
stuhl, den man ihm nicht angeboten hatte, tat durch 
aus harmlos und versuchte, eine Unterhaltung in 
Fluß zu bringen, aber es wollte nicht gelingen. 
Dann kam der „Schulklöpper", klopfte unten bei 
der Blümchen herzhaft ans Fenster und rief von 
der Straße herauf auch gleich dem Hirsch zu, daß 
es ZeitZei, „Schulen zu gehen". So sah der Kall 
men sich genötigt, sich -zu verabschieden. Langsam 
stieg er die Treppe hinab, die letzte Hoffnung auf 
eine warme Schabbesmahlzeit ließ er oben. Der 
Blümchen Stubentür stand offen, und im Vorbei 
gehen sah Kallmen, daß das Zimmer leer war. 
Der Blümchen und ihres Mannes Stimme klangen 
vom Hinterhof herein. In seinen Gedanken ver 
loren blieb der Kallmen einen Augenblick stehen, 
ohne daß er's wußte. Da fiel sein Blick auf einen 
kleinen Schlüssel, der, zusammen mit einer Holz 
kugel auf einen Riemen geschnürt, unter dem Spiegel 
in Blümchens Stube hing. Das war der Schlüssel 
zum Backofen, den die Blümchen heute in Ver 
wahrung hatte. Ein teuflischer Gedanke sprang in 
Kallmen auf —, wenn er den Schlüssel an sich 
nähme — — ? 
Mit zwei langen, katzenleisen Schritten war er 
im Zimmer, nahm den Riemen mit dem Schlüssel 
von der Wand und ließ ihn in die Hosentasche 
gleiten. Im nächsten Augenblick war er draußen, 
fest hielt seine Rechte den Schlüssel in der Tasche 
umschlossen. 
Vor dem Hause standen die beiden kleinen Mäd 
chen Blümchens, frisch gewaschen und gekämmt, in 
ihren Schabbeskleidchen. Sie kamen auf ihn zu, 
als sie den Kallmen sahen, und die jüngere hielt ihm 
das perlgestickte Umhängetäschchen entgegen, das ihre 
Raritätensammlung enthielt. Der Kallmen/ als 
Kinderfreund, besah mit vielem Interesse und be 
wunderte ausgiebig eine leere Nähgarnrolle, ein 
neues Pfennigstück, eine Hahnenfeder, ein Stück 
chen rotes Glas, ein Bröckcheu Apfelsinenschale 
'und ein paar bunte Wollfäden. 
Allmählich kamen die Glaubensgenossen aus Häu 
sern und Gassen hervor, um „Schulen zu gehen". 
Auch der Kallmen nahm nun seinen Weg zur> 
Synagoge und setzte sich auf eine der letzten Bänke. 
Da hatte er sie alle vor sich, die, auf die er tief 
herabsehen zu dürfen glaubte, und die ihrerseits, 
doch ihn verachteten — er fühlte es wohl. Aber 
heute — hatte er sie in der Gewalt! Fest um* 
klammerten seine Finger den Schlüssel in seiner 
Tasche, seine Gedanken flogen zu den jetzt wohl 
gemächlich brodelnden Töpfen im Backofen. Und 
er lächelte, boshaft, schadenfroh. 
* 
Hell strahlte am andern Morgen die Frühlings 
sonne auf all die Gerechten, die da in der Synagoge 
so brünstig gebetet und so herzerhebend gesungen 
hatten. Sie schien auch auf den Kallmen so freund 
lich, als wolle sie ihn dafür schadlos halten, daß er 
heute früh sein Stück trocknen Brotes nicht in eine 
Tasse heißen Kaffees hatte brocken können, und daß 
alle die frommen, streng nach dem Gesetz lebenden 
Stammesbrüder kalt und hochmütig an ihm vorüber 
sahen. Gemächlich, beide Hände in den Hosen 
taschen, den Hut im Nacken oder auf einem Ohr, 
schritten die Männer heimwärts. Eiliger hatten es 
die Frauen, am eiligsten die Blümchen. Zu Hause 
legte sie den Machsor auf den Tisch und band sich 
eine Schürze vor. Während sie mit der Linken 
noch an sich nestelte, griff sie mit der andern Hand
	        

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