Full text: Hessenland (35.1921)

that schrieb im ganzen 18 Dramen. Mag inan ihnen 
platte Effekthascherei und Kulissenromantik nach 
sagen, sie haben jahrzehntelang stark gewirkt und 
ein ganzes Dichtergeschlecht beeinslußt. Der An 
zahl der Dramen entspricht diejenige der Opern 
texte, die er für Nicolai (Lustige Weiber), Rubin- 
stein, Kretschmar, Brüll u. a. schrieb. Seine Lyrik 
ist so gut wie vergessen. Mit unvergänglichem 
Zauber aber wirken noch heute Mosenthals gegen 
Ende seines Lebens entstandene Erzählungen ans 
dem jüdischen Familienleben, die zum großen Teil 
die Kasseler Verhältnisse der Biedermeierzeit schil- 
dern und eine Neuauflage lohnen. Die Stadt Kassel 
nannte bereits vor Jahren eine ihrer Straßen nach 
dem heimatlichen Dichter. Die Kasseler Staatsbühne 
hatte uns ane* Anlaß der Säkularfeier die Neu-t 
. anfführung der „Deborah" versprochen, scheint aber 
mit dem einst gewissenhaft geübten Brauch, mit 
solchen Aufführungen den eigentlichen Gedenktag zu 
zieren, gebrochen zu haben. Trotzdem wollen >vir in 
diesen Tagen ehrend des einheimischen Dichters 
gedenken, der im Grunde niemals spezifischer Wiener 
geworden, sondern zeit seines Lebens ein Hesse 
geblieben ist. P. H. 
August Vilmars Verhältnis zu Goethe. 
Voi: W > l l S ch e l l e r. 
Es wäre müßig, die Bedeutung Vilmars für das 
höhere geistige Leben seiner Nation, vor allem 
hinsichtlich ihres Verständilisses für ihre eigenen 
dichterischen Hervorbringungen, besonders darlegen 
zu wollen. Der beispiellose Erfolg seiner „Ge 
schichte der delltscheu Nationalliteratur" sagt mehr 
als alle Definitionen. Interessant und lehrreich 
ist es jedoch, zil sehen, auf welchem Wege der 
Mann zu solcher Erheblichkeit emporgeschritten ist. 
llnd wie die Beziehung zuni Größten immer die 
beste Handhabe für das Urteil über den Menschen 
überhaupt zu sein pflegt, kann es für die Erkenntnis 
der leibhaftigen Wirksamkeit Vilniars nur eine der 
vorzüglichsten Anleitungen seil», zu betrachten, wie 
er sich zu den« erhabensten Phänomen des deut 
schen Geistes, zu Goethe, verhalten hat. 
I. H. Leimbach teilt in seiner Lebensbeschreibung 
Vilmars (1875, Heinrich Feesches Verlag, Han 
nover) mit, daß dieser als Knabe Gelegenheit hatte, 
Erzählungen einer den Hofkreisen zu Weimar an 
gehörenden Dame zu lauschen, die das Nachteilige 
aus Goethes früherem und damaligem Leben, wenn 
auch mit großer Diskretion, so doch in allen Details ! 
mit großer Anschaulichkeit schilderten; es hat ihn 
deshalb, nach seiner Versicherung, noch zehn, ja 
zwanzig Jahre später die größte Mühe gekostet, 
bei dem Lesen von Goethes We^en diese nach 
teiligen Jugendeindrücke zu überwinden, und nur 
ein benachbarter Pfarrer, der ein gewisses Ver 
ständnis für Goethe besaß, hielt diesen Erzählungen 
bei ihm einigermaßen das Gleichgewicht. Es ist 
mithin doppelt zu bewundern, daß Vilmar, der 
einen so entschiedenen christgläubigen Standpunkt ! 
allen Lebensfragen gegenüber einnahm, zu einer so 
objektiven Würdigung Goethes gelangte, wie es ^ 
ans seiner gesamten eigenen Produktion und allen 
bekannt gewordenen privaten Äußerungen mit hin 
reichender Klarheit ersichtlich ist. Diese Würdigung 
' gelangt zum Ausdruck vor allem in Vilmars „Ge 
schichte der deutschen Nationalliteratur" (27. Auf 
lage, N. G. Elwerts Verlag, Marburg) und in 
seinem Werk „Lebensbilder deutscher Dichter und 
Germanisten" (2. Auflage, ebenda). Wichtige Aus 
schlüsse gewährt auch die große, für die Geistes 
geschichte des vorigen Jahrhunderts hochbedeutsame 
Vilmar-Biographie von Wilhelm Hopf (1613/14 bei 
N. G. Elwert, Marburg). Mit Hilfe dieser drei 
Quellen zunächst soll versucht werden, die haupt 
sächlichen Gedanken Vilmars über Goethe kurz und 
übersichtlich vorzutragen. 
Goethe repräsentiert demnach nicht einen ein 
zelnen, wenn auch uoch so hervorragenden Dichter 
unter vielen, sondern ein ganzes Zeitalter der 
Poesie; es wäre jedoch verkehrt, aus dem Beifall, 
den „Götz" und „Werther" gefunden haben, zu 
schließen, daß der Grundzug dieses Zeitalters im 
Revolutionären zil suchen sei! Vielmehr ist es eine 
gewisse allgemeine poetische Stimmung, die das 
Zeitalter Goethes kennzeichnet, und Goethe selbst 
ist die höchste Spitze dieser Stimmung, indem sich 
diese in seiner Produktion unvergänglich mani 
festiert. In dem unveröffentlichten, von W. Hopf 
auszugsweise mitgeteilten, Briefwechsel mit seinem 
Bruder Wilhelm betont August Vilmar,'wie später 
in seiner Nationalliteratur, daß Goethes welt 
liches Evangelium, ivie sein Gesamtwerk 
bezeichnet werden kann und soll, seinen Lauf durch 
die Welt noch lange nicht vollendet hat; und Wil 
helm antwortet, daß, wer Goethe nicht versteht, 
weder die auf ihn folgende Zeit versteht, noch ihre 
verschiedenen Richtungen in sich aufnehmen kann. 
Goethe ist „unser Meister darin, daß uns nichts 
Irdisches mehr fremb ist; alles wird nahe sein, 
ohne sein Geheimnis zu verlieren; daß er ein ein 
gefleischter Heide, ist wahr, wenn hierin kein ver 
werfliches Urteil soll ausgesprochen werden, insofern!
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.