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bald auf durch eine überraschend gute Aussprache
des Französischen und durch bemerkenswerte Ge-
wandheit im deutschen Ausdruck. Er zählte damals
sechzehn Jahre. Mehr Knabe als Jüngling, eher
klein als groß, weniger schlank als untersetzt, von'
Heller, ungewöhnlich frischer Gesichtsfarbe, mit rotem
Haar, welches letztere damals noch nicht, wie heut
zutage, für schön galt. Seine Aufmerksamkeit beim
Unterricht war gespannt, bis zur Unruhe; die
wasserblauen Augen, deren Ausdruck eine frühe
Brille trübte, hielt er beständig auf mich geheftet,
mochte ich uuü hoch zu Katheder sitzen oder peri-
patetisch dozieren, und zappelte emsig mit der aus
gestreckten Hand in der bekannten Geberdensprache,
welche andeutet, daß ein eifriger Schüler die Ant
wort auf eine gestellte Frage weiß oder aufgerufen
werden und „drankommen" möchte. Auch lachte er
am längsten und lautesten,'wenn ich einmal — die
Untugend aller jungen Lehrer einen schlechten
Witz riß. . . . Als ihn die Reihe traf, die fran
zösischen Exerzitien der Klasse, die ich korrigieren
durfte, dreißig bis vierzig au der Zahl, mir ins
Haus zu bringen, blieb er, nachdem er feine schwere
Bürde auf meinen Schreibtisch abgelegt, au der
Tür verlegen stehen. „Wünschen Sie noch etwas?",
fragte ich freundlich, das offizielle „Dil", wie immer
außerhalb der Schule, ablegend. Nach einigem
Stammeln: Ja, ich hätte wohl . . . Wenn ich so
frei sein dürfte usw., zog er aus seiner Tasche ein
paar mit seiner fließenden Handschrift dicht bedeckte
Blätter hervor: „Gedichte." Ich hieß ihn sitzen,
lesen, während ich zuhörte, ermutigend mit dem
Kopf nickte hier und da besserte. Sein Gesicht wurde
aus rosenrot purpurfarbig; das goldene Haar fun
kelte förmlich, hörbar flog sein Atem. Es waxen,
soviel ich mich erinnere, echte Schülergedichte, Lese
früchte, Schnabelstudien eines noch nicht flüggen
Singvogels. Aber sie' müssen etwas versprochen
haben; denn als ich, ein paar Jahre später —
um, wie Kollege Elavigo, „meiner Nation das
noch unbekannte Vergnügen einer Wochenschrift zu
geben" — in Kassel eine Zeitung, „Der Salon",
auftat, versäumte ich nicht, lyrische »Beiträge von
Mosenthal heranzuziehen, die er, mehr wohl aus
Vorsicht als aus Bescheidenheit, nicht mit seinem
Namen, sondern nur mit seiner Chiffre unter
zeichnete."
Im zweiten Jahrgang des „Salon" (1842) tritt
Mosenthal, dessen übersandte Gedichte Friedrich
Rückert schon 1837 freundlich ausgenommen und der
inzwischen auch kleine Nobelleu für Lewalds „Eu
ropa" geschrieben hatte, z. T. auch mit seinem
Namen hervor, so in seiner Ballade vom „Kaiser
Franz", dem Märchen „Hans Tausendsasa und
Erlinde, oder der indische Wundervogel", der „Jung
srau voul Scharfenstein" und dem auch heute noch
viel gesungenen „Deserteur" (Zu Straßburg auf
der langen Brück').
Mit den begabtesten Jünglingen des Gymnasiums
hatte Mofenthal eine Verbindung gegründet, die,
wie er selbst schreibt, „halb .Hain- halb Tugend-
bund, Moral und Poesie zu ihren Prinzipien und
Bnrs'chenschastliches und Vehmgerichtliches zu ihren
formellen Regeln nahm", Man versammelte sich,
oft unter Teilnahme der Professoren Theobald und
Flügel, auf seinem Zimmer, las Klassiker, sang
Lieder und führte Tragödien auf. Diese „geheime
Burschenschaft" wurde von der Polizei entdeckt,
Mosenthal entfloh zu seinem. Oheim in Stuttgart,
der ihn nach Karlsruhe auf das Polytechnikum
brachte.. So stand das Muttersöhnchen allein auf
fremdem Boden, studierte Chemie und Physik und
lernte in der Fabrik am Schraubstock Eisen drehen
und feilen, die Hildburghäuser Groschenausgabe von
l Lessings „Nathan" in der Tasche. Nach zwei Jahren
gewann er die Überzeugung, daß sein Weg zu
den praktischen Wissenschaften ein Irrweg war.
Nachdem er vier Monate im Hause des Frankfurter-
Oheims Dr. Jakob Weil ernsten Studien gelebt hatte,
nahm er 1842 eine Erzieherstelle im Hause Gold
schmidt zu Wien au, die ihn ein Jahrzehnt hindurch!
in Anspruch nahm. In die Gilde der Wiener-
Poeten aufgenommen, gewann er bald die Zu
neigung Grillparzers, lernte u. a. Bauernfeld,
Castelli, Seidl, Prechtler und den Maler Wald
müller kennen und fand in Wien eine zweite
Vaterstadt. 18411 holte er sich in Marburg das
philosophische Doktordiplom, verheiratete sich 1851
mit einer Stuttgarter Base, der Tochter des Dr. Karl
Weil, trat int selben Jahr als Kanzlist im öster
reichischen Unterrichtsministerium in den kaiserlichen
! Staatsdienst, wurde später ebendort Bibliothekar,
! erhielt den Titel Regierungsrat und wurde vom
! Kaiser in den erblichen Ritterstand erhoben. Un
erwartet ereilte ihn am Morgen des 17. Februar
1877 der- Tod. Ans dem israelitischen Friedhof in
i Währing bei Wien wurde er begraben.
Mosenthal ist nicht nur in Wien einer der
populärsten Dichter geworden. Schon früh hatte
er angefangen, für die Bretter zu schreiben. Aber
erst seine im Sturmjahr 1848, indes die Kanonen
auf das - Dach des kaiserlichen Zeughauses wet
terten, entstandene „Deborah" utachte ihn mit
einem Schlage bekannt. Dieses in 13 Sprachen über
tragene Volksschauspiel nahm, in der Titelrolle von
Charlotte Wolter, Klara Ziegler bis zur armseligsten
Heldin fahrender Komödianten verkörpert, seinen
Siegeslauf über den Erdball. Ein zweiter glück
licher Wurf gelang ihm einige Jahre später mit
dem Torfschauspiet „Der Sonnwendhof". Mosen-