Full text: Hessenland (35.1921)

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und das Schützenkorps der Residenz Kassel Spalier bil 
deten. Jeder Behörde schritt ein aus ihrer Mitte 
gewählter Trauermarschall voraus. Der ganze Zug, der 
nach dem offiziellen Programm 77 Nummern enthielt, 
umfaßte mit Einschluß des Militärs üoer 2000 Per 
sonen. Er bewegte sich von der Schloßkirche ans an 
Fontänenteich, Sibpllengrotte nnd Pyramide des Ccstius 
vorbei; die für diese Gelegenheit besonders instand 
gesetzte Straße zur Löwenburg heißt danach noch heute 
der „Leichenweg". An der Burg, von dessen Turm 
die schwarze Flagge wehte, war die Zugbrücke auf 
gezogen und das Fallgatter herabgelassen. Der „schwarze 
Ritter" ritt an den Burggraben heran und schlug mit 
den Worten „der Fürst zu Hessen will seinen Einzug 
halten" an das Fallgatter, worauf dieses in die Höhe 
gezogen und die Brücke gesenkt wurde. Nunmehr zog die 
Spitze des Zuges ein, schritt über den Burghof durch 
das gegenüberliegende Tor und nahm jenseits der Burg 
Aufstellung. Der Sarg wurde in die Kapelle getragen, 
in die außer der kurfürstlichen Familie nur die bei der 
Leiche fungierenden Personen sowie das Ministerium und 
drei Präsidenten eintraten. Kurfürst Wilhelm I. hatte es 
verschmäht, in der Gruft seiner Väter beigesetzt zu 
werden. Landgraf Friedrich I. war seit Philipp dem 
Großmütigen der erste gewesen, der nicht in der St. 
Martinskirche beigesetzt wurde; er ruht in Stockholm, 
Wilhelm VIII. dann wieder im Martinsdom, Friedrich II. 
in der katholischen Elisabethkirche. Auch die Nachfolger 
Wilhelms I. sind bekanntlich nicht in der Martinskirche 
beigesetzt, Wilhelm II. ruht in Hanau, Friedrich Wil 
helm I. neben Mutter und Schtvester auf dem alten 
Kasseler Totenhof an der Lutherkirche. Wilhelm I. aber 
wollte inmitten seiner herrlichen Schöpfung beigesetzt 
sein und hatte sich in der von ihm erbauten Löwenburg 
eine Grabkapelle herrichten lassen. In der Gruft unter 
dieser Kapelle befindet sich ein jetzt nicht mehr zu sehendes 
Relief von der Hand des Bildhauers Ruhl, über dem 
Gewölbe das Grabmal eines Ritters, gleichfalls von 
Ruhl. Die schwarz ausgeschlagene Kapelle war von 
.Kerzen erhellt. Nachdem der gesamte Zug durch den 
Burghof gezogen war, hielt Generalsuperintendent Rom 
mel die gut abgefaßte Trauerrede, dann tvurde, indes 
101 Kanonenschüsse und Jnfanteriesalven ertönten, der 
Sarg in die Gruft gesenkt und in einen Marmor 
sarkophag gesetzt, die Schlüssel zur Tür in die Gruft 
hinabgeworfen und diese vermauert. Die Truppen defi 
lierten vor dem Kurfürsten, worauf die Teilnehmer nach 
Kassel zurückkehrten. 
Man hat gesagt, mit dem Todestag des Kurfürsten 
sei für Hessen erst das 18. Jahrhundert beendet ge 
wesen. Das ist nicht ganz unrichtig, Er war in seinem 
ganzen Denken und Handeln ein Regent nach der Art 
des 18. Jahrhunderts. Gewiß wollte er in dieser Art 
das Beste seines Volkes, aber nur zögernd tvollte er der 
neuen Zeit Konzessionen machen. Daß er dieses Beste 
tvollte, weist Redner aus der langen Zeit seiner Re 
gierung nach. So war z. B. eine seiner ersten Regierungs 
handlungen die Abschaffung der Folter. Er war ein 
echt deutscher Fürst mit starker Abneigung gegen alles 
französische Wesen. Immer tvieder griff er gegen den 
Erbfeind zu den Waffen. Auch getvann er es nicht 
über sich, gleich anderen Fürsten Napoleon zu huldigen. 
Mit der Niederlage Preußens war aber auch ihm der 
Todesstoß versetzt. Auch seinen Geiz, der vielfach unheil 
voll in die Erscheinung trat, konnte er, tvenn er es 
für nötig hielt, überwinden. Das zeigt außer seinen 
Bauten der Umstand, daß er nach der Verbannung 1813 
einer der ersten deutschen Fürsten tvar, die mit Geld 
mitteln nicht zurückhielten. Trotzdem viele Tausende 
seiner hessischen Untertanen als westfälische Soldaten in 
Rußland den Untergang gefunden hatten, brachte er es 
in zwei Monaten fertig, ein völlig neues Heer von 
24000 Mann auf den Kriegsschauplatz zu schicken. 
Trotz allen Fehlern war er beim Volke beliebt, das ihm 
selbst seine vielen Mätressen verzieh, denen er nie den 
geringsten Einfluß auf die Regierung zugestand. Aber 
nicht an all^n Untertanen war die westfälische Regierung 
vorübergegangen, die so manchen, jetzt ungern vermißten 
Fortschritt gebracht hatte. Alle diese Fortschritte ließen 
sich nicht beseitigen, ohne daß das Bedauern und Un 
willen erregte. So sank bei Bürgern, Bauern und Of 
fizieren die anfangs günstige Stimmung stark herab. 
Alle Klaffen hatten Grund zur Unzufriedenheit, alle 
waren einig in dem Verlangen nach einer Verfassung. 
Diesen Bestrebungen stand der Kurfürst nicht ganz ab 
lehnend gegenüber, aber die Forderungen des Volkes 
gingen ihm zu >veit, und so zog er von seinen Zu 
geständnissen nach und nach alles tvieder zurück. In 
diesem Mißverhältnis sind die ersten Anfänge des Ver 
fassungskampfes zu suchen, der später so schweres Leid 
über das Hessenland bringen sollte. So ist es nicht ver 
wunderlich, daß man überall große Hoffnungen auf seinen 
Nachfolger setzte. Die erste Zeit der Regierung Wil 
helms II. schien dieses Vertrauen zu rechtfertigen, aber 
sein Starrsinn und der Einfluß seiner Mätresse, der 
späteren Gräfin Reichenbach, die sich im weitesten Sinn 
in die Regierungsgeschäfte mischte, führte schon bald zu 
verhängnisvollen Zerwürfnissen. 
Von allen Personen, die bei der Beisetzung des ersten 
Kurfürsten tätig waren, gedenkt man noch heute überall 
in Hessen am lebhaftesten des sog. schwarzen oder Toten 
ritters, des Jagdjunkers Christian von Eschwege, dessen 
sich schon früh die Volkssage bemächtigte. Redner weist 
nach, daß der alte Brauch, einen solchen Totenritter 
zu verwenden, nicht nur bei fürstlichen Beerdigungen, 
sondern — was bisher noch unbekannt war — auch bei 
Beisetzungen nicht fürstlicher vornehmer Personen vor 
kam. Die Sage von dem frühzeitigen Hinscheiden dieses 
schwarzen Ritters fand in Christian von Eschwege ihr 
letztes Beispiel. Dieser, 1703 in Reichensachsen als Sohn 
eines Oberstleutnants geboren, hatte sich im Zug gegen 
Frankreich 1814/15 den kurhcssischen Orden des Eisernen 
Helm und den preußischen ?our le mérite erworben und 
dann als Hof- und Jagdjunker im Oberforst Habichtswald 
Dienst getan. Als seine Mutter, der die alte Sage be 
kannt war, erfuhr, daß er im Leichenzug des Kurfürsten 
zum Totenritter bestimmt, war, lebte sie in großer 
Sorge. War doch in der Todesnacht des Landesherrn 
nicht nur das Bild ihres Sohnes, des Jagdjunkers, 
von der Wand gestürzt, sondern hatte im Fall von den 
vielen auf einer Kommode stehenden Tassen gerade die 
jenige mit dem Bilde der . Löwenburg in Scherben 
geschlagen. Aber auch diese üble Vorbedeutung hielt 
Eschwege nicht davon ab, sich seiner Lehnspflicht zu unter 
ziehen. Augenzeugen wollen bemerkt haben, daß er 
schon vor Beginn des Zuges unter der ungewohnten 
Rüstung blaurot im Gesicht war. In der Löwenburg 
zog er sich dann vermutlich eine starke Erkältung zu, 
jedenfalls erkrankte er bald danach am Nervenfieber, 
dem er nach vier Monaten erlag, und zwar am 11. Juli 
1821, wie die Inschrift seines Grabmals auf dem Luther 
platz besagt. Seine Rüstung befindet sich noch heute im 
Armatursaal der Löwenburg. Noch mancherlei wird über 
den Tod des ersten Hessenkurfürsten berichtet, was in 
das Gebiet der Vorahnung fällt, darunter selbst von so 
ruhigen und verständigen Leuten wie den Brüdern 
Grimm. Wenig bekannt ist auch, daß der Leichen 
wagen, der den Sarg dieses letzten Kurfürsten des
	        

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