den sogenannten Kunstkennern, die das Wesen des
Theaters in der Bewirkung sinnlicher Effekte sehen
und insofern freilich den „Tasso" dramatisch arm
finden müssen, sowie endlich, bei jenen scheinbaren
Verehrern Goethes, die diese Tragödie einer leiden
schaftlichen Seele entweder zu einfach oder zu aus
führlich, oder gar zu inhaltlos finden, indem sie
nichts darin zu sehen vermögen als eine Hof-
intrigue. Demgegenüber setzt er sich vor, „die
vollendete künstlerische Bedeutung" seines „Lieb
lings" ad oculos zu demonstrieren. Er weist nach,
auf welche Weise in den seelischen Kräften, die das
Ganze bilden, mit den historischen die individuellen
Motive innigst sich verflechten, wie denn „Goethes
Charaktere, der überwiegenden Mehrzahl nach . . .
aus dem Boden der Wirklichkeit, der Geschichte und
der persönlichen Erfahrung erwachsen" sind. Hier
auf erläutert er mit großer Sorgfalt die harmonische
Architektur des Werkes, jene ideale Ökonomie des
Ausbaues, ebenmäßig durchgeführt in Exposition,
Schürzung, Peripetie und Katastrophe, die den
„Tasso" an künstlerischem Rang denen der hierin
vorbildlichen Antike gleichstellt. Das Problem der
Einzelcharakteristik findet Vilmar in jeder Figur von
neuem derart gelöst, daß er nicht glaubt, in einer-
anderen Dichtung Goethes etwas von solcher Voll
kommenheit suchen zu dürfen; die Begründung
dieses hohen Lobes bildet den Hauptteil der kleinen
Schrift und stützt sich auf eine tiefe Erkenntnis der
„Naturkraft unseres unsterblichen Dichters", die sich
hier am reinsten offenbart habe. Den Sinn des
Ganzen, das Tragische in der Persönlichkeit des
Helden, das verhängnisvolle Jneinanderverflochten-
sein von fremder und eigener Schuld, erblickt Vilmar
in dem unvermeidlichen Konflikt zwischen Dichter
und Welt, jener psychischen Problematik, der ein
schöpferischer Mensch um so leichter unterliegt, je
reizbarer sein Lebenswille, je empfindsamer sein
Selbstgefühl, je lebhafter seine Einbildungskraft ist.
Übrigens verfehlt Vilmar nicht, zu erhärten, daß
Goethe in Alsonso von Este die Jdealgestalt der
Fürstlichkeit und in der Prinzessin die Jdealgestalt
der Weiblichkeit in seinem Sinne geformt und in
die Sphäre des Unvergänglichen gehoben hat.
Im „Egmont" — um noch des Wichtigsten Er
wähnung zu tun — sieht Vilmar mehr eine Folge
aneinandergereihter, wenn auch wirksamer, Szenen,
als ein vollständiges Drama, und vermißt im Helden
das rechte Maß tragischer Größe. Der „Westöstliche
Divan" erscheint ihm als Kaminfeuer des Greises,
an dem, statt an den Vulkanen Goethescher Jugend
und Manneskraft, sich zu 'wärmen, als Verblendung
der Nachfahren bezeichnet wird.
Im Winter 1844/45 hat Vilmar zu Marburg
unter anderem eine Reihe von Vorträgen über
Goethe gehalten, von denen derjenige über „Tasso"
oben besprochen worden ist. Leimbach irrt jedoch
(a. a. £>.), wo er meint, daß die übrigen Borträge
nur wenig verändert in das Buch von Vilmars
Sohn Otto „Zum Verständnis Goethes" (2. Auf
lage, N. G. Elwert, Marburg) übergegangen wären.
Vielmehr verhält es sich so, daß Otto Vilmar hier
mit ein 'ganz selbständiges Werk, und zwar auf
Grund eigener Vorlesungen, geschaffen hat; anderer
seits freilich weist er in seinen Gedankengängen
eine solche Übereinstimmung mit denen seines Vaters
aus, daß es zweckmäßig ist, eine nähere Betrachtung
dieses Verhältnisses anzuschließen.
Das Wesentliche in Goethes Lyrik ist nach Otto
Vilmar neben dem Unerschöpflichen und Beziehungs
reichen ihres individuellen Grundes eine gewisse
Kindlichkeit, sene Ungebrochenheit der Empfindung
noch inl Ausdruck, die geeignet ist, das beruhigende
Gefühl nahen menschlichen Herzschlages beim Leser
hervorzurufen. Die Köstlichkeit von Goethes Lyrik
wäre — im logischen Verfolg dieses Gedankens —
im unbewußt Volksliedhaften zu suchen, aber das
inüßte zweifellos als eine Beschränkung angesehen
werden, denn die Lyrik ist, wie jede Kunstform,
vielblumig und entwicklungsreich, und Goethe würde
nicht zu den Meistern der Lyrik gehören, wenn
dieser Umstand nicht auch in seinen Gedichten her
vorträte. Otto Vilmar ist sich darüber klar und
gesteht, daß trotz des von ihm so bevorzugten volks
tümlich Liedhaften bei Goethe doch die Herrlichkeit
des Lyrischen selbst auch unmittelbar zum Durch
bruch tomme — und nach dem neueren Kunstgefühl
sind es gerade die besten Gedichte, wo dies geschieht.
Sein Zugeständnis schwächt Otto Vilmar aber nach
träglich dadurch ab, daß er eben die Singbarkeit
für ein Kriterium lyrischen Kunstwertes erklärt,
womit freilich das Gegenteil vom Richtigen gesagt
wird: das lyrische Gedicht erreicht vielmehr den
höchsten Grad der Vollkommenheit, wo es durch
seinen spezifisch musikalischen Gehalt, Auswahl,
Maß und Klang, das Anlehnungsbedürfnis an
eine Schwesterkunst gänzlich ausschließt.
Aber auch im Positiven ist Otto Vilmar durchaus
der Sohn seines Vaters, wenn er beispielsweise die
Idee des „Faust" vornehmlich in der Konstrastierung
von Himmel und Hölle erblickt und das Grandiose
des Werkes darin, daß der Dichter, ohne — nach
Otto Vilmar — diesen Gegensatz persönlich erlebt
zu haben, ihn doch mit einer Überzeugungskraft
zum Ausdruck bringt, die nachher nicht übertroffen
worden ist, Die Goethe in so hohem Maße ver
liehene Sehergabe, die ' Fähigkeit nämlich, das
Menschenleben in seiner Wahrheit aufzufassen und
darzustellen, und zugleich den tiefsten Grund alles
menschlichen Tuns, die jeweilige Stellung zum