Full text: Hessenland (32.1918)

191 
vereinzelten schwachen Lichtspender in der langen 
diistern Allee in Erinnerung geblieben, wenn ich 
einmal an einem Herbstabende mit meinem Vater 
von Zwehren her heimwärts wanderte. 
Dem eigenartigen Zauber der Oberneustadt mit 
ihren vornehm-ruhigen Straßenzügen, den charak 
tervollen Häusern, die jvie aus einem Gusse 
dastehen und doch jedes für sich individuelles Ge 
präge tragen, habe ich mich schon frühe nicht 
entziehen können, und es gehört mit zu den schön 
sten und liebsten Erinnerungsbildern, die Ober- 
neustadt an einem Sonntagmorgen, wenn über den 
ruhigen Straßen die Töne der Glocken schwebten, 
von der Oberneustädter her, die noch den 
alten Dachaufsatz zeigte, der das Bild der Kirche 
verkleinert wiederholte. Damals noch stand auch 
der Häuserblock zwischen Meßplatz und Wilhelms- 
straße, an der 'Königstraße das Meßhaus, während 
die der Karlstraße zugekehrte Hälfte des Viertels 
mit kleineren ündgrößeren Privatgebäuden besetzt 
war. Auf dem Meßplatze, vor dem französischen 
Hospitale, stand die Büste Schomburgs (die jetzt 
den Stündeplatz ziert), von Flieder umgeben, und 
auf der unteren Seite des Platzes ein eiserner 
Brunnen mit großem steinernen Trog, und — 
um auch rrock) eines Mannes zu gedenken, 
der mir besonders mit der Erinnerung an den 
Meßplatz und die obere Königstraße verknüpft 
ist, sei der Kaufmann Kümmel genannt, der 
mit seinen markanten Zügen und seinem gestickten 
Käppchen auf dem Kopfe meist in der Tür seines 
Ladens in der oberen Königstraße stand. 
Das Hohenzollernviertel war damals erst in 
seinen Anfängen. Hinter der Westendstraße war 
noch meist freies Feld, die englische Kirche stand 
fast ganz abseits, und nur wenn ein Zirkus kam, 
entstand sein schnell fertiges Gebäude oder Zelt 
auf den: Gelände zwischen Kaiserstraße und Hohen- 
zollernstraße, dem weiland „Hypothekensriedhof" 
Romulo Echtermeyers seligen Gedächtnisses. Und 
in der Kölnischen Allee lagen die jüngeren Ge 
schwister der Felsenkeller mit ihren Biergärten, 
die auch längst Zinshäusern Platz gemacht. Von 
allen der idyllischste war „Loschs Garten" an der 
Ecke der Kölnischen Allee und der Hardenberg 
straße; ein kleines Holzgebäude auf gemauertem 
Podest bildete die Ecke; im Frühling war der Gar 
ten mit seinen Lauben und Buschwerk ein wogendes 
Meer von lila und weißem Flieder und den 
Blüten des Goldregens. Kalkgruben und alte halb 
verfallene Kalköfen füllten dann das Gelände nach 
der Querallee hin aus. Die Gebäude der alten 
Schöfferhof-Brauerei waren die letzten in der Köl 
nischen Allee, und wo jetzt das Villenviertel am 
Tannenwäldchen sich hinzieht, dehnte sich das Feld, 
das im Herbste der Tummelplatz für die Jungens 
war, die ihre Drachen steigen ließen. 
Weiter unten am Hange des Kratzenberges, von 
Kirchditmold her, zog sich der Druselgraben, der 
die Zaitenstöcke in der Stadt mit Wasser versorgte; 
unter der Bezeichnung „Am Wässerchen" war es 
ein beliebter Spaziergang, wenn die Familien nach 
Kirchditmold zu Meiß oder Lingelbach tvanderten 
um sich dort an Kaffee und Kuchen oder „Rippen 
braten, Sulperfleisch, Leberwurst und Sülze" güt 
lich zu tun. Die Aufzählung der „fleischlichen 
Genüsse" in dieser Form und Reihenfolge war 
die übliche, angelernte, und wer dann noch mehr 
verlangte, erhielt zur Antwort: „Ja, 'ne saure 
Gurke!" 
Doch vom „Wässerchen" wollte ich reden. Bei 
dem nun längst durch die Aschrottsche Brücke ab 
gelösten Bahnübergänge am Ausgange des Bahn 
einschnitts von Kassel her begann der Druselgraben 
sich von dem übrigen Bache abzuzweigen, der 
hinab ins Tal eilte, wo er sich mit dem noch jetzt 
nördlich der Wilhelmshöher Allee hinführenden 
Druselbache vereinte. Der Druselgraben zog sich an 
der Berglehne entlang, um die Tannenkuppe he 
rum, wo noich heute ein kleiner Rest zu fehlen ist, 
und führte dann, immer geleitet von einem Fuß 
wege zwischen! Schlehen-, Rosen- undl Ligusterhecken, 
zwischen denen einzelne Weiden ihre runden, dicken 
Köpfe aufreckten, zum Kirchwege, den er unter 
halb des jetzigen Neumarktes schnitt; ging dann 
in einem weit nach Norden ausgreifenden Bogen 
unter dem Höllenküppel hier, dar einst nur ein klei 
ner Hügel im Felde gewesen mit einer Vertiefung 
auf der Spitze, zu meiner Zeit aber eine kleine 
Gartenwirtschaft trug. Etwa im Zuge der Regina 
straße und weiter Über das Gelände südlich der 
englischen Kirche und dann an der städtischen 
Kaserne entlang ging der Laus des Wassers, das 
noch zuletzt eine kleine Turbine im Hause des 
Malers Ludwig am Königstore trieb. Der „Weg 
am Wässerchen" endete aber an der Querallee. 
Den Freund heimatlicher Botanik wird es vielleicht 
noch interessieren, daß das Gebiet des Druselgra- 
bens auch der Standort der nicht sehr häufigen 
Osterluzei (^rwtoloedia Olsmatitis) war, jener 
zierlichen Schwester des aus Nordamerika als Zier 
strauch eingeführten „Pfeifenköpfes". Die Anlage 
der Aschrottschen Straßen hat, wie so manches an 
dere Wesen aus der Tier- und Pflanzenwelt durch 
das Vordringen der Städte vertrieben wird, auch 
diese Pflanze in jber Nähe Kassels ausgerottet. 
Länger als dies Gebiet hielt sich noch das Ge 
lände am Bahnhöfe, irr der Verlängerung des 
„Grünen Weges". Dieser führte in großem Bogen 
zu den Güterschuppen des Bahnhofes, und von ihnr, 
nach Westen abzweigend, ging der Weg nach 
Rothenditmold zwischen den Dielenwänden der 
Bodenheimschen Faßfabrik und dem von Hecken 
begrenzten tieferliegenden Bahnhofsgelände hin. 
Hier schaute man in den Rangierbetrieb des Bahn 
hofes; und wo der Weg sich zu senken begann, 
schweifte der Blick bis zum Habichtswalde, dem 
Dörnberge, während rechts die Hänge des Reis 
berges, mit grünen Wiesen, von Hecken und Bäu 
men durchzogen, sich hinabsenkten zum Angers 
bache, der noch rein und klar, nicht mit den Ab 
wässern der Bahnwerkstätten verschmutzt, dahin 
floß. Näher nach Rothenditmold hin stand ein 
kleines BahnbeamrenHäuschen neben einigen rau
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.