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vereinzelten schwachen Lichtspender in der langen
diistern Allee in Erinnerung geblieben, wenn ich
einmal an einem Herbstabende mit meinem Vater
von Zwehren her heimwärts wanderte.
Dem eigenartigen Zauber der Oberneustadt mit
ihren vornehm-ruhigen Straßenzügen, den charak
tervollen Häusern, die jvie aus einem Gusse
dastehen und doch jedes für sich individuelles Ge
präge tragen, habe ich mich schon frühe nicht
entziehen können, und es gehört mit zu den schön
sten und liebsten Erinnerungsbildern, die Ober-
neustadt an einem Sonntagmorgen, wenn über den
ruhigen Straßen die Töne der Glocken schwebten,
von der Oberneustädter her, die noch den
alten Dachaufsatz zeigte, der das Bild der Kirche
verkleinert wiederholte. Damals noch stand auch
der Häuserblock zwischen Meßplatz und Wilhelms-
straße, an der 'Königstraße das Meßhaus, während
die der Karlstraße zugekehrte Hälfte des Viertels
mit kleineren ündgrößeren Privatgebäuden besetzt
war. Auf dem Meßplatze, vor dem französischen
Hospitale, stand die Büste Schomburgs (die jetzt
den Stündeplatz ziert), von Flieder umgeben, und
auf der unteren Seite des Platzes ein eiserner
Brunnen mit großem steinernen Trog, und —
um auch rrock) eines Mannes zu gedenken,
der mir besonders mit der Erinnerung an den
Meßplatz und die obere Königstraße verknüpft
ist, sei der Kaufmann Kümmel genannt, der
mit seinen markanten Zügen und seinem gestickten
Käppchen auf dem Kopfe meist in der Tür seines
Ladens in der oberen Königstraße stand.
Das Hohenzollernviertel war damals erst in
seinen Anfängen. Hinter der Westendstraße war
noch meist freies Feld, die englische Kirche stand
fast ganz abseits, und nur wenn ein Zirkus kam,
entstand sein schnell fertiges Gebäude oder Zelt
auf den: Gelände zwischen Kaiserstraße und Hohen-
zollernstraße, dem weiland „Hypothekensriedhof"
Romulo Echtermeyers seligen Gedächtnisses. Und
in der Kölnischen Allee lagen die jüngeren Ge
schwister der Felsenkeller mit ihren Biergärten,
die auch längst Zinshäusern Platz gemacht. Von
allen der idyllischste war „Loschs Garten" an der
Ecke der Kölnischen Allee und der Hardenberg
straße; ein kleines Holzgebäude auf gemauertem
Podest bildete die Ecke; im Frühling war der Gar
ten mit seinen Lauben und Buschwerk ein wogendes
Meer von lila und weißem Flieder und den
Blüten des Goldregens. Kalkgruben und alte halb
verfallene Kalköfen füllten dann das Gelände nach
der Querallee hin aus. Die Gebäude der alten
Schöfferhof-Brauerei waren die letzten in der Köl
nischen Allee, und wo jetzt das Villenviertel am
Tannenwäldchen sich hinzieht, dehnte sich das Feld,
das im Herbste der Tummelplatz für die Jungens
war, die ihre Drachen steigen ließen.
Weiter unten am Hange des Kratzenberges, von
Kirchditmold her, zog sich der Druselgraben, der
die Zaitenstöcke in der Stadt mit Wasser versorgte;
unter der Bezeichnung „Am Wässerchen" war es
ein beliebter Spaziergang, wenn die Familien nach
Kirchditmold zu Meiß oder Lingelbach tvanderten
um sich dort an Kaffee und Kuchen oder „Rippen
braten, Sulperfleisch, Leberwurst und Sülze" güt
lich zu tun. Die Aufzählung der „fleischlichen
Genüsse" in dieser Form und Reihenfolge war
die übliche, angelernte, und wer dann noch mehr
verlangte, erhielt zur Antwort: „Ja, 'ne saure
Gurke!"
Doch vom „Wässerchen" wollte ich reden. Bei
dem nun längst durch die Aschrottsche Brücke ab
gelösten Bahnübergänge am Ausgange des Bahn
einschnitts von Kassel her begann der Druselgraben
sich von dem übrigen Bache abzuzweigen, der
hinab ins Tal eilte, wo er sich mit dem noch jetzt
nördlich der Wilhelmshöher Allee hinführenden
Druselbache vereinte. Der Druselgraben zog sich an
der Berglehne entlang, um die Tannenkuppe he
rum, wo noich heute ein kleiner Rest zu fehlen ist,
und führte dann, immer geleitet von einem Fuß
wege zwischen! Schlehen-, Rosen- undl Ligusterhecken,
zwischen denen einzelne Weiden ihre runden, dicken
Köpfe aufreckten, zum Kirchwege, den er unter
halb des jetzigen Neumarktes schnitt; ging dann
in einem weit nach Norden ausgreifenden Bogen
unter dem Höllenküppel hier, dar einst nur ein klei
ner Hügel im Felde gewesen mit einer Vertiefung
auf der Spitze, zu meiner Zeit aber eine kleine
Gartenwirtschaft trug. Etwa im Zuge der Regina
straße und weiter Über das Gelände südlich der
englischen Kirche und dann an der städtischen
Kaserne entlang ging der Laus des Wassers, das
noch zuletzt eine kleine Turbine im Hause des
Malers Ludwig am Königstore trieb. Der „Weg
am Wässerchen" endete aber an der Querallee.
Den Freund heimatlicher Botanik wird es vielleicht
noch interessieren, daß das Gebiet des Druselgra-
bens auch der Standort der nicht sehr häufigen
Osterluzei (^rwtoloedia Olsmatitis) war, jener
zierlichen Schwester des aus Nordamerika als Zier
strauch eingeführten „Pfeifenköpfes". Die Anlage
der Aschrottschen Straßen hat, wie so manches an
dere Wesen aus der Tier- und Pflanzenwelt durch
das Vordringen der Städte vertrieben wird, auch
diese Pflanze in jber Nähe Kassels ausgerottet.
Länger als dies Gebiet hielt sich noch das Ge
lände am Bahnhöfe, irr der Verlängerung des
„Grünen Weges". Dieser führte in großem Bogen
zu den Güterschuppen des Bahnhofes, und von ihnr,
nach Westen abzweigend, ging der Weg nach
Rothenditmold zwischen den Dielenwänden der
Bodenheimschen Faßfabrik und dem von Hecken
begrenzten tieferliegenden Bahnhofsgelände hin.
Hier schaute man in den Rangierbetrieb des Bahn
hofes; und wo der Weg sich zu senken begann,
schweifte der Blick bis zum Habichtswalde, dem
Dörnberge, während rechts die Hänge des Reis
berges, mit grünen Wiesen, von Hecken und Bäu
men durchzogen, sich hinabsenkten zum Angers
bache, der noch rein und klar, nicht mit den Ab
wässern der Bahnwerkstätten verschmutzt, dahin
floß. Näher nach Rothenditmold hin stand ein
kleines BahnbeamrenHäuschen neben einigen rau