Full text: Hessenland (31.1917)

Erinnerungen aus meinem Leben. 
Von Otto Bahr. 
(Fortsetzung.) 
Ich muß hier einiges über diese Qualifikations 
feststellung sagen. In Kurhessen gab es zwar ein 
zweites (sog. großes) Examen. Aber niemand war 
verpflichtet, es zu machen; vielmehr wurde es nur, 
im ganzen selten, . von einzelnen- freiwillig ge 
macht, die dadurch ihre Befähigung, sofort in ein 
Obergericht einzutreten, nachweisen wollten. Für 
die Beschreitung der gewöhnlichen Richterlaufbahn, 
die mit dem Amtsassessor bei einem Untergerichte 
begann, genügte die einfache „Richterqualifikation". 
Diese wurde von den Obergerichten auf Grund 
der bisherigen dienstlichen Tätigkeit des Mannes 
festgestellt. Für die bei den Obergerichten beschäf 
tigten Referendare wurde von Zeit zu Zeit vom 
Plenum eine sog. Qualifikationssitznng gehalten, 
in der über die Tüchtigkeit der Referendare geur 
teilt und zur Kennzeichnung ihrer Eigenschaften 
eine vielspaltige Tabelle ausgefüllt, zugleich aber 
über ihre Befähigung zum Richteramte sich aus 
gesprochen wurde. 
Wir Referendare erhielten hierüber keine offi 
zielle Kenntnis, aber wir wurden es doch unter der 
Hand gewahr. Wenn ein bei den Justizämtern be 
schäftigter Praktikant darum bat, seine Richter 
qualifikation festzustellen, so wurden Akten, worin 
er gearbeitet hatte, eingezogen und von einer inner 
halb der Obergerichte bestehenden Kommission ge 
prüft. Im großen Ganzen war diese Art, die 
Richterbefähigung festzustellen, weit besser und 
sicherer, als ein zweites Examen. Wohl mochten 
ja, namentlich bei kleineren Obergerichten, mit 
unter Menschlichkeitei: vorkommen und auch einem 
Minderbefähigten einmal die Richterqualifikation 
erteilt werden. Aber das Ergebnis eines Examens 
wird noch weit mehr dem Zufall unterworfen 
bleiben. 
Übrigens waren diejenigen Referendare und 
Praktikanten, die nicht die Richterqualifikation er 
hielten, keineswegs genötigt, aus dem Juristen 
dienst auszuscheiden. Sie wurden vielmehr Sekre 
täre oder Aktuare bei den Gerichten; denn diese 
Stellen wurden nicht, wie jetzt, mit Schreibern, 
sondern durchweg mit studierten Leuten, wenn 
auch von geringerer Befähigung, besetzt. Auch 
um Anwalt zu werden, bedurfte man nicht der 
Richterqualifikation. So bildete der Richterstand 
gewissermaß-en die Elite des gesamten Juristen 
standes; und dies trug wesentlich dazu bei, daß 
sich in Kurhessen eine tüchtige Justiz entwickelte. 
Hatten wir Referendare die Richterqualifikation 
erlangt, so änderte dies an unserem Verhältnisse 
zum Gerichte gar nichts. Wir wurden nicht etwa 
sofort „Assessoren", — den Titel Assessor führten 
nur wirklich angestellte, in Funktion tretende Rich 
ter. Wir arbeiteten also bei den Gerichten als 
„Referendare" ruhig fort. Denn es war damals 
noch die Ansicht verbreitet, daß man arbeite, um 
Kenntnisse für das Leben, und nicht bloß um die 
Fähigkeit zu einer Anstellung sich zu erwerben. 
Welches Interesse wir Referendare an unserem 
Beruf hatten, .dafür kann die Tatsache Zeugnis 
geben, daß eine Anzahl von uns längere Jahre 
hindurch ein juristisches Kränzchen hatte, in dem 
allwöchentlich bei einer Tasse Tee juristische Fra 
gen besprochen wurden. 
Im Herbist 1841 ließ ich mich an das Stadt 
gericht in Kassel versetzen, um die untergerichtliche 
Tätigkeit kennen zu lernen. Hier bekam ich zu 
nächst eine klare Vorstellung von der freiwilligen 
Gerichtsbarkeit. Außerdem beschäftigte ich mich 
eifrig mit der Instruktion und Entscheidung von 
Bagatellsachen (Sachen bis zu 50 Tlr. Wert). 
In diesen bestand (gleichfalls infolge eines Ge 
setzes von 1834) ein rein mündliches Verfahren. 
Nach Schluß der Verhandlung wurde das Ergeb 
nis in einem Protokoll zusammengefaßt, das un 
gefähr dem heutigen „Tatbestände" des Urteils ent 
sprach, übrigens den Parteien zur Genehmigung 
vorgelesen werden mußte. In diesem Verfahren 
traten meistens die Parteien persönlich auf. • Im 
Gegensatz zu dem bei den Obergerichten ausschließ 
lich geltenden Anwaltsprozeß habe ich dieses Ver 
fahren, wo der Richter die lebendigen Menschen 
vor sich und aus rhrem oft ungefügen Vorbringen 
oen Rechtsgedanken gleichsam herauszulösen hatte, 
äußerst lehrreich gesunden. 
Im Frühjahr 1842 wurde ich zu Arbeiten im 
Ministerium des Innern berufen. Es wurde mir 
dort die Anfertigung von Zusammenstellungen der 
Entscheidungen der Verwaltungsbehörden in ver 
schiedenen Gebieten übertragen. So lernte ich die 
Tätigkeit der Verwaltung in ziemlich umfassender 
Weise kennen. Ich wurde dann auch mit dem Se 
kretariate der kurftirstlichen Landtagskommission 
beauftragt, wodurch ich während der Jahre 1842 
und 1843 zu den Verhandlungen des kurhessischen 
Landtags (die freilich von der parlamentarischen 
Tätigkeit, die ich später kennen lernte, sehr ver 
schieden waren) in nahe Beziehung trat. Es wurde 
mir damals nahe gelegt, in die Verwaltung über 
zugehen. Ich empfand aber keine Neigung dazu. 
Die Verwaltung in Kurheiien bot wenig Erfreu-
	        
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