Erinnerungen aus meinem Leben.
Von Otto Bahr.
(Fortsetzung.)
Ich muß hier einiges über diese Qualifikations
feststellung sagen. In Kurhessen gab es zwar ein
zweites (sog. großes) Examen. Aber niemand war
verpflichtet, es zu machen; vielmehr wurde es nur,
im ganzen selten, . von einzelnen- freiwillig ge
macht, die dadurch ihre Befähigung, sofort in ein
Obergericht einzutreten, nachweisen wollten. Für
die Beschreitung der gewöhnlichen Richterlaufbahn,
die mit dem Amtsassessor bei einem Untergerichte
begann, genügte die einfache „Richterqualifikation".
Diese wurde von den Obergerichten auf Grund
der bisherigen dienstlichen Tätigkeit des Mannes
festgestellt. Für die bei den Obergerichten beschäf
tigten Referendare wurde von Zeit zu Zeit vom
Plenum eine sog. Qualifikationssitznng gehalten,
in der über die Tüchtigkeit der Referendare geur
teilt und zur Kennzeichnung ihrer Eigenschaften
eine vielspaltige Tabelle ausgefüllt, zugleich aber
über ihre Befähigung zum Richteramte sich aus
gesprochen wurde.
Wir Referendare erhielten hierüber keine offi
zielle Kenntnis, aber wir wurden es doch unter der
Hand gewahr. Wenn ein bei den Justizämtern be
schäftigter Praktikant darum bat, seine Richter
qualifikation festzustellen, so wurden Akten, worin
er gearbeitet hatte, eingezogen und von einer inner
halb der Obergerichte bestehenden Kommission ge
prüft. Im großen Ganzen war diese Art, die
Richterbefähigung festzustellen, weit besser und
sicherer, als ein zweites Examen. Wohl mochten
ja, namentlich bei kleineren Obergerichten, mit
unter Menschlichkeitei: vorkommen und auch einem
Minderbefähigten einmal die Richterqualifikation
erteilt werden. Aber das Ergebnis eines Examens
wird noch weit mehr dem Zufall unterworfen
bleiben.
Übrigens waren diejenigen Referendare und
Praktikanten, die nicht die Richterqualifikation er
hielten, keineswegs genötigt, aus dem Juristen
dienst auszuscheiden. Sie wurden vielmehr Sekre
täre oder Aktuare bei den Gerichten; denn diese
Stellen wurden nicht, wie jetzt, mit Schreibern,
sondern durchweg mit studierten Leuten, wenn
auch von geringerer Befähigung, besetzt. Auch
um Anwalt zu werden, bedurfte man nicht der
Richterqualifikation. So bildete der Richterstand
gewissermaß-en die Elite des gesamten Juristen
standes; und dies trug wesentlich dazu bei, daß
sich in Kurhessen eine tüchtige Justiz entwickelte.
Hatten wir Referendare die Richterqualifikation
erlangt, so änderte dies an unserem Verhältnisse
zum Gerichte gar nichts. Wir wurden nicht etwa
sofort „Assessoren", — den Titel Assessor führten
nur wirklich angestellte, in Funktion tretende Rich
ter. Wir arbeiteten also bei den Gerichten als
„Referendare" ruhig fort. Denn es war damals
noch die Ansicht verbreitet, daß man arbeite, um
Kenntnisse für das Leben, und nicht bloß um die
Fähigkeit zu einer Anstellung sich zu erwerben.
Welches Interesse wir Referendare an unserem
Beruf hatten, .dafür kann die Tatsache Zeugnis
geben, daß eine Anzahl von uns längere Jahre
hindurch ein juristisches Kränzchen hatte, in dem
allwöchentlich bei einer Tasse Tee juristische Fra
gen besprochen wurden.
Im Herbist 1841 ließ ich mich an das Stadt
gericht in Kassel versetzen, um die untergerichtliche
Tätigkeit kennen zu lernen. Hier bekam ich zu
nächst eine klare Vorstellung von der freiwilligen
Gerichtsbarkeit. Außerdem beschäftigte ich mich
eifrig mit der Instruktion und Entscheidung von
Bagatellsachen (Sachen bis zu 50 Tlr. Wert).
In diesen bestand (gleichfalls infolge eines Ge
setzes von 1834) ein rein mündliches Verfahren.
Nach Schluß der Verhandlung wurde das Ergeb
nis in einem Protokoll zusammengefaßt, das un
gefähr dem heutigen „Tatbestände" des Urteils ent
sprach, übrigens den Parteien zur Genehmigung
vorgelesen werden mußte. In diesem Verfahren
traten meistens die Parteien persönlich auf. • Im
Gegensatz zu dem bei den Obergerichten ausschließ
lich geltenden Anwaltsprozeß habe ich dieses Ver
fahren, wo der Richter die lebendigen Menschen
vor sich und aus rhrem oft ungefügen Vorbringen
oen Rechtsgedanken gleichsam herauszulösen hatte,
äußerst lehrreich gesunden.
Im Frühjahr 1842 wurde ich zu Arbeiten im
Ministerium des Innern berufen. Es wurde mir
dort die Anfertigung von Zusammenstellungen der
Entscheidungen der Verwaltungsbehörden in ver
schiedenen Gebieten übertragen. So lernte ich die
Tätigkeit der Verwaltung in ziemlich umfassender
Weise kennen. Ich wurde dann auch mit dem Se
kretariate der kurftirstlichen Landtagskommission
beauftragt, wodurch ich während der Jahre 1842
und 1843 zu den Verhandlungen des kurhessischen
Landtags (die freilich von der parlamentarischen
Tätigkeit, die ich später kennen lernte, sehr ver
schieden waren) in nahe Beziehung trat. Es wurde
mir damals nahe gelegt, in die Verwaltung über
zugehen. Ich empfand aber keine Neigung dazu.
Die Verwaltung in Kurheiien bot wenig Erfreu-