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Sie doch das Jüngelchen noch zu Haus, es kann
ja kaum auf den Tisch gucken". Meine Mutter
aber beharrte darauf, ich mußte das Examen für die
Aufnahme machen, bestand es glücklich, und ward
zu Michaelis 1824 — also 7 l / 4 Jahr alt — in
die Quinta des Lyzeums aufgenommen. Damit
war das erste große Ziel, das meine Mutter vor
Augen hatte, erreicht. Ich war natürlich der
kleinste in der Schule („der kleine Bär"). Aus meiner
Kinderzeit muß ich noch folgende Vorgänge erzählen.
Im Jahr 1822 machte ich meine erste Reise.
Zu einer Badekur war der Bruder meiner Mutter,
Onkel Dietrich von Leer, nach Pyrmont gekommen.
Um ihn wiederzusehen, machte meine Mutter mit
mir und meiner Schwester Sophie eine Reise
dorthin. Wir fuhren in einem Mietwagen (ich
glaube Einspänner) zwei Tage lang, blieben meh
rere Tage in Pyrmont und reisten dann ebenso zurück.
Im Sommer 1823 oder 24 besuchte uns die
Tante Livonius von Güstrow. Sie war mit einer
Familie in einem Mietwagen 8 Tage lang gereist.
Die Reise durch die Lüneburger Heide wurde als
besonders schrecklich geschildert. Sie brachte mir
zum Geschenk drei Bücher mit: 1. Des Knaben
Wunderhorn, 2. Robinsohn, 3. Gellerts Gedichte.
Sie blieb mehrere Monate bei uns. Nachdem sie
zuMckgereist war, schickte sie mir noch eine silberne
Uhr; auf dem Zifferblatt stand ein wilder Mann. Der
Brief, womit sie die Uhr schickte, ist noch vorhanden.
Im Winter 1824/25 befiel meinen Vater eine
schwere Erkrankung, so daß er' glaubte, er müsse
sterben. Ich erinnere mir noch, daß er einmal zu
mir sagte: „Du armes Jüngelchen". Er erholte
sich aber wieder und hat noch 16 Jahre gelebt.
Was nun meine weitere Heranbildung betrifft,
so bestand in dieser Beziehung ein stiller Krieg
zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Mein
Vater, in den engsten Verhältnissen aufgewachsen,
wollte, ich sollte nur „Brotwissenschaften" stu
dieren. Meine Mutter wollte, ich sollte alles
lernen. So kam es oft zu einem Gegensatz, aber
meine Mutter behielt schließlich immer die Oberhand.
Ein großes Glück war es in dieser Beziehung,
daß meine Mutter kurz nach meiner Geburt eine
Erbschaft getan hatte. Eine entfernte Tante Hugo
in Amsterdam war gestorben. Zwar machten auch
andere auf die Erbschaft Anspruch. Aber es ward
ein Vergleich geschlossen und meine Mutter bekam
3000 Taler. Das gab ihr eine ganz andere Stel
lung. Sie konnte sich nun. wenn sie mich etwas
lernen lassen wollte, darauf berufen, daß sie doch
einiges Vermögen besitze. Im Grunde seiner Seele
hatte mich auch mein Vater sehr lieb, und er
freute sich, wenn ich etwas konnte, und war stolz
darauf, wenn die Menschen mich lobten.
Schon ganz früh hielt meine Mutter mich zum
Zeichnen an. Ich zeichnete auf einen mit brauner
Ölfarbe gestrichenen Tisch mit weißer Kreide. Auch
schon früh fing sie an, französisch mit mir zu
sprechen. Als ich in das Lyzeum kam, verstand
ich schon ziemlich französisch. (Im Lyzeum, wo
der Unterricht im Französischen durch den Lehrer
Hodiesne sehr schlecht war, habe ich nichts weiter
dazu gelernt.) Als ich 6 Jahre alt war, setzte
meine Mutter durch, daß auch ein Klavier ange
schafft wurde. Es kostete 84 Taler. Anfangs
unterrichtete mich meine Mutter selbst. Nach Jah
resfrist engagierte sie einen jungen Menschen, den
Sohn eines Schullehrers, der in unserm Hause
wohnte, namens Schiebeler, für mich als Lehrer.
Er bekam für 16 Stunden einen Taler; Schon
früh entwickelte sich mein Gehör. Als ich acht
Jahr alt war — wir wohnten noch in der Unter-
neustadt — konnte ich schon die Töne auf dem
Klavier erkennen. Mein Lehrer, dem meine Schwe
stern es sagten und der mich darauf probierte,
sagte: „Das ist wunderbar". Meine Mutter sang
öfters zum Klavier; sie begleitete sich selbst. Sie
sang unter anderem eine lange Bürgersche Ballade:
„Ritter Karl von Eichenhorst", komponiert von
Zumsteeg. Bald konnte ich die ganze Ballade aus
wendig. Ich stellte mich abends mit meiner
Schwester Hannchen (die mitsingen mußte) vor
meinen Vater hin und sang sie von Anfang bis
zu Ende vor. Natürlich machte ihm das auch Spaß.
Zu Michaelis 1825 zogen wir aus der Unter-
neustädt weg in das dem Stückgießer Henschel
gehörige neben dem Gießhaus gelegene „Freihaus"
am Klosterplatz. Das war für uns eine wesentliche
Verbesserung. Auch hatte ich nun einen etwas
kürzeren Schulweg. (Ich ging über den Brink, die
Hohenthorstraße hinaus und dann die Königstraße
entlang.) Der Umzug war so gekommen. Im
Sommer 1825 war von Henschel eine neue Fahne
für die große Kirche gemacht worden, die im Gieß-
haus zu sehen war. Wir Schuljungen liefen hin,
fanden aber die Tür verschlossen. Ich wurde von
ibert andern die Treppe hinaufgeschickt, um zu
fragen. Ich kam in eine Stube, wo eine alte
Frau saß, und fragte: „Wohnt hier der Kanonen
gießer Henschel?" Die Frau — es war die Frau
Stückgießer — fragte mich: „Wem gehörst Du
denn?" Ich sagte es. Da sagte sie: „Ich kenne
Deine Mutter" (sie hatte sie in Westfälischer
Zeit kennen gelernt), „sage ihr doch, sie solle
mich einmal besuchen." "Meine Mutter ging hin,
erfuhr, daß die Wohnung frei sei und wir mieteten
sie. Sie kostete freilich sechzig Taler!
Ich will hier gleich einiges über unsere Haus
haltführung sagen. Mein Vater hatte nur einen