Full text: Hessenland (31.1917)

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trug, daß mein Vater wieder in Dienst trat. Er 
wurde im Jahre 1808 bei der westfälischen Ar 
tillerie in Kassel angestellt. Ein großes Glück für 
ihn war es, daß im Jahre 1812 sein Regiment 
hier in Kassel blieb. Ich hörte ihn später oft 
mals sagen: „Wenn ich mit nach Rußland gemußt 
hätte, wäre ich nicht mehr da". Im Jahre 1812 
lernte mein Vater meine Mutter kennen und ver 
heiratete sich mit ihr im Januar 1813. 
Meine Mutter, Christine Elisabeth Reinhold 
(Lisette genannt), war am, 19. Mai 1777 in Osna 
brück geboren. Sie war die Tochter eines Ge 
lehrten, ich glaube er führte den Titel Professor, 
was er aber eigentlich im bürgerlichen Leben für 
eine Stellung hatte, weiß ich nicht. Er war Mathe 
matiker, führte Vermessungen aus und hatte 
Bücher geschrieben. Sein Vater (also mein Ur 
großvater) war hannoverscher Hauptmann gewesen. 
Von ihm existieren noch zwei in Kupfer gestochene 
Bilder, die nach der Unterschrift mein Großvater 
gezeichnet und gestochen hatte. Sie sind zwar offen 
sichtlich mit derselben Platte gedruckt, aber sonder 
barerweise nicht völlig gleich. Die Platte muß 
also nachträglich umgearbeitet sein. 
Von ihrer Mutter sagte meine Mutter öfters, 
sie sei eine dumme Frau gewesen. Jedenfalls war 
der Vater die Seele des Hauses. Meine Mutter 
erzählte öfters, wenn er durchs Haus gegangen sei 
und eine von ihnen müßig gesehen habe, so habe 
er gerufen: „Tut was!" Er sorgte für eine gute 
Erziehung seiner Kinder, hielt ihnen namentlich 
eine Bonne, bei der sie Französisch lernten. Auch 
konnte meine Mutter zeichnen, spielte Klavier und 
sang. Meine Mutter hatte drei Geschwister, die 
ältere Schwester Christiane (verheiratet an den 
Hofadvokaten Livonius in Güstrow) und die jün 
geren Geschwister Dietrich (starb als Wasserbau 
meister in Leer) und Doris (verheiratet an den 
Kanzleirat von Monroy in Güstrow). Die Eltern 
starben früh. Vermögen war nicht vorhanden^ 
Meine' Mutter, die länger als ihre Schwestern 
unverheiratet blieb, mußte sich eine Zeitlang bei 
fremden Leuten durchschlagen. Dann war sie einige 
Zeit bei ihrer Schwester Christiane. Dann kam sie 
zu ihrem Bruder Dietrich, der damals unter west 
fälischer Herrschaft in Kassel angestellt war. Dieser 
und mein Vater wohnten in benachbarten Häusern 
der Unterneustadt. So kam die Bekanntschaft und 
die Heirat zustande. 
Nach Stürz der westfälischen Herrschaft wurde 
mein Vater 1814 zum Regiment Landgraf Karl 
nach Hersfeld versetzt. Von dort mußte er wieder 
mit in dm Krieg ziehen. Es ist noch das Abschieds- 
schreiben vorhanden, das mein Vater damals an 
seine Kinder richtete. Es entspricht ganz seinem Wesen. 
Als im Jahre 1816 Fulda hessisch wurde, wurde 
das Regiment meines Vaters dorthin verlegt. 
In Fulda wurde ich am 2. Juni 1817 (nachdem 
also meine Mutter 40 Jahre alt geworden) ge 
boren. Es war das Hungerjahr. Meine Mutter 
erzählte später, sie habe, als sie mit mir in Wochen 
gewesen, 9 Milchbrode des Tages essen können, 
so klein seien sie damals gewesen. 
Aus der Zeit, wo wir in Fulda lebten, weiß 
ich mir noch Einzelnes zu erinnern. So z. B. wie 
mein Vater, als er Mittags nach Hause kam, wü 
tend den Zopf vom Kopse riß und auf das Sofa 
warf. Er mußte als Regimentsarzt einen Zopf 
tragen, der um den Kopf festgebunden wurde. 
Von meiner frühsten Jugend auf war meine 
Mutter bemüht, für meine geistige Entwickelung zu 
sorgen. Das war das ganze Streben ihres Le 
bens. Es kam ihr dabei zu Hülfe, daß ich ein 
sehr gutes Gedächtnis hatte. Noch ehe ich ein Wort 
zu lesen verstand, kannte ich aus der Bilderfibel, 
aus der mir oft vorgelesen wurde, ganze Seiten 
auswendig, so daß ich sie scheinbar ablas. Als ich 
eben sprechen konnte, deklamierte ich schon „In 
seinem Löwengarten". 
Im Frühjahr 1821 ward mein Vater zur Leib 
garde nach Kassel versetzt, ein großes Glück für 
mich, da ich in Kassel doch eine ganz andere Heran 
bildung erlangen konnte, als mir in Fulda zuteil 
geworden wäre. 
Noch in Fulda war mein Bruder Wilhelm 
(dessen ick mich kaum noch erinnere) aus dem 
väterlichen Hause geschieden. Er war zu einem 
Kaufmann in die Lehre gekommen, hatte schlechte 
Streiche gemacht und war von meinem Vater nach 
Nordamerika geschickt worden. Dort hat er sich in 
verschiedenen Stellungen herumgetrieben und ist 
im Jahre 1832 ohne Hinterlassung von Familie 
verstorben. 
In Kassel zogen wir in ein Haus der Unter 
neustadt, das in der alten Leipzigerstraße (neben 
der Renterei) liegt. Es war eine große, aber wüste 
Wohnung. Wir zahlten 54 Taler Miete. Sehr 
interessant war es, daß fast jedes Jahr eine 
Überschwemmung stattfand, die bis nahe an unser 
Haus trat, wo wir dann, um in die Stadt zu 
kommen, zu Schiff überfahren mußten. 
Sehr früh lernte ich Lesen und Schreiben, auch 
die Anfangsgründe des Rechnens, alles bei meiner 
Mutter. Me ich 6 Jahre alt war, bekam ich eine 
lateinische Stunde bei dem Lehrer Heydenreich 
hinter der Mauer. Ich ging alle Abend um 4 Uhr 
dahin. Nachdem ich ein Jahr diese Stunde ge 
habt hatte, wollte meine Mutter, ich solle in das 
Lyzeum. Als mich nun mein Vater zu dem alten 
Professor Cäsar brachte, sagte dieser: „Ach, lassen
	        
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