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trug, daß mein Vater wieder in Dienst trat. Er
wurde im Jahre 1808 bei der westfälischen Ar
tillerie in Kassel angestellt. Ein großes Glück für
ihn war es, daß im Jahre 1812 sein Regiment
hier in Kassel blieb. Ich hörte ihn später oft
mals sagen: „Wenn ich mit nach Rußland gemußt
hätte, wäre ich nicht mehr da". Im Jahre 1812
lernte mein Vater meine Mutter kennen und ver
heiratete sich mit ihr im Januar 1813.
Meine Mutter, Christine Elisabeth Reinhold
(Lisette genannt), war am, 19. Mai 1777 in Osna
brück geboren. Sie war die Tochter eines Ge
lehrten, ich glaube er führte den Titel Professor,
was er aber eigentlich im bürgerlichen Leben für
eine Stellung hatte, weiß ich nicht. Er war Mathe
matiker, führte Vermessungen aus und hatte
Bücher geschrieben. Sein Vater (also mein Ur
großvater) war hannoverscher Hauptmann gewesen.
Von ihm existieren noch zwei in Kupfer gestochene
Bilder, die nach der Unterschrift mein Großvater
gezeichnet und gestochen hatte. Sie sind zwar offen
sichtlich mit derselben Platte gedruckt, aber sonder
barerweise nicht völlig gleich. Die Platte muß
also nachträglich umgearbeitet sein.
Von ihrer Mutter sagte meine Mutter öfters,
sie sei eine dumme Frau gewesen. Jedenfalls war
der Vater die Seele des Hauses. Meine Mutter
erzählte öfters, wenn er durchs Haus gegangen sei
und eine von ihnen müßig gesehen habe, so habe
er gerufen: „Tut was!" Er sorgte für eine gute
Erziehung seiner Kinder, hielt ihnen namentlich
eine Bonne, bei der sie Französisch lernten. Auch
konnte meine Mutter zeichnen, spielte Klavier und
sang. Meine Mutter hatte drei Geschwister, die
ältere Schwester Christiane (verheiratet an den
Hofadvokaten Livonius in Güstrow) und die jün
geren Geschwister Dietrich (starb als Wasserbau
meister in Leer) und Doris (verheiratet an den
Kanzleirat von Monroy in Güstrow). Die Eltern
starben früh. Vermögen war nicht vorhanden^
Meine' Mutter, die länger als ihre Schwestern
unverheiratet blieb, mußte sich eine Zeitlang bei
fremden Leuten durchschlagen. Dann war sie einige
Zeit bei ihrer Schwester Christiane. Dann kam sie
zu ihrem Bruder Dietrich, der damals unter west
fälischer Herrschaft in Kassel angestellt war. Dieser
und mein Vater wohnten in benachbarten Häusern
der Unterneustadt. So kam die Bekanntschaft und
die Heirat zustande.
Nach Stürz der westfälischen Herrschaft wurde
mein Vater 1814 zum Regiment Landgraf Karl
nach Hersfeld versetzt. Von dort mußte er wieder
mit in dm Krieg ziehen. Es ist noch das Abschieds-
schreiben vorhanden, das mein Vater damals an
seine Kinder richtete. Es entspricht ganz seinem Wesen.
Als im Jahre 1816 Fulda hessisch wurde, wurde
das Regiment meines Vaters dorthin verlegt.
In Fulda wurde ich am 2. Juni 1817 (nachdem
also meine Mutter 40 Jahre alt geworden) ge
boren. Es war das Hungerjahr. Meine Mutter
erzählte später, sie habe, als sie mit mir in Wochen
gewesen, 9 Milchbrode des Tages essen können,
so klein seien sie damals gewesen.
Aus der Zeit, wo wir in Fulda lebten, weiß
ich mir noch Einzelnes zu erinnern. So z. B. wie
mein Vater, als er Mittags nach Hause kam, wü
tend den Zopf vom Kopse riß und auf das Sofa
warf. Er mußte als Regimentsarzt einen Zopf
tragen, der um den Kopf festgebunden wurde.
Von meiner frühsten Jugend auf war meine
Mutter bemüht, für meine geistige Entwickelung zu
sorgen. Das war das ganze Streben ihres Le
bens. Es kam ihr dabei zu Hülfe, daß ich ein
sehr gutes Gedächtnis hatte. Noch ehe ich ein Wort
zu lesen verstand, kannte ich aus der Bilderfibel,
aus der mir oft vorgelesen wurde, ganze Seiten
auswendig, so daß ich sie scheinbar ablas. Als ich
eben sprechen konnte, deklamierte ich schon „In
seinem Löwengarten".
Im Frühjahr 1821 ward mein Vater zur Leib
garde nach Kassel versetzt, ein großes Glück für
mich, da ich in Kassel doch eine ganz andere Heran
bildung erlangen konnte, als mir in Fulda zuteil
geworden wäre.
Noch in Fulda war mein Bruder Wilhelm
(dessen ick mich kaum noch erinnere) aus dem
väterlichen Hause geschieden. Er war zu einem
Kaufmann in die Lehre gekommen, hatte schlechte
Streiche gemacht und war von meinem Vater nach
Nordamerika geschickt worden. Dort hat er sich in
verschiedenen Stellungen herumgetrieben und ist
im Jahre 1832 ohne Hinterlassung von Familie
verstorben.
In Kassel zogen wir in ein Haus der Unter
neustadt, das in der alten Leipzigerstraße (neben
der Renterei) liegt. Es war eine große, aber wüste
Wohnung. Wir zahlten 54 Taler Miete. Sehr
interessant war es, daß fast jedes Jahr eine
Überschwemmung stattfand, die bis nahe an unser
Haus trat, wo wir dann, um in die Stadt zu
kommen, zu Schiff überfahren mußten.
Sehr früh lernte ich Lesen und Schreiben, auch
die Anfangsgründe des Rechnens, alles bei meiner
Mutter. Me ich 6 Jahre alt war, bekam ich eine
lateinische Stunde bei dem Lehrer Heydenreich
hinter der Mauer. Ich ging alle Abend um 4 Uhr
dahin. Nachdem ich ein Jahr diese Stunde ge
habt hatte, wollte meine Mutter, ich solle in das
Lyzeum. Als mich nun mein Vater zu dem alten
Professor Cäsar brachte, sagte dieser: „Ach, lassen