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der Baukunst bricht, die den Stempel der Origi
nalität nicht klar an der Stirn tragen, die sich
vielmehr in ihrer äußeren Form in einem alten
bewährten Gewände zeigen, das dm Einfluß der
Renaissance oder ihres großen Vorbildes, des
Griechentums, nicht verleugnet, wie z. B. das Kasse
ler Rathaus und die neue Stadthalle. Seine herbe
und abfällige Kritik an diesen beiden bedeutendsten
neueren öffentlichen Gebäuden Kassels werdm auch
diejenigm, die Bocks Standpunkt schätzen und wür
digen, nicht billigen können. Grade diese beiden
Bauten haben weit, über die Grenzen des Hessen
landes hinaus in Laien- und Fachkreisen berech
tigte Bewunderung gefunden und werden immer
zu den besten Werken der Baukunst gerechnet
werden, die in den erstm Jahrzehnten des 20. Jahr
hunderts geschaffen wordm sind. Wieviel Bauten
gibt es in Deutschland aus der Zeit der Erbauung
unseres neuen Rathauses, die ihm ebmbürtig an
die Seite gesetzt werden könnm, die eine gleiche
Beherrschung der Form und der Raumwirkung er
kennen lassen? Wieviel neuere Bauten besitzen die
Qualität und zeigen den Ausdruck einer einzigen
klaren künstlerischen Vorstellung im Grund- und
Aufriß wie unsere Stadthalle? Sie sind in Deutsch
land, und im Ausland noch mehr, mit der Laterne
zu suchen. Es ist doch nicht angängig, Bautm
von künstlerisch hervorragendem Wert, wie diese
beiden, nur abfällig zu bmrteilen, weil sie von
dem Gesichtspunkt aus betrachtet, ob sie die ori
ginale Schöpferkraft besitzen, nichts bedeuten, ohne
gleichzeitig zu würdigm, daß sie hoch über den
Durchschnittsleistungen ihrer Zeit stehen und zu dem
Besten gehören, was in den letztm 80 Jahren ge-
schaffm ist.
Aber Herr Professor Bock kennt nur die Num
mern 1 und 5, ganz ausgezeichnet und minder-
wertig. Diese Verleugnung aller Mittelwerte ist
in der Baukunst besonders bedenklich. Denn die
Baukunst ist keine freie Kunst, wie die Malerei;
inan kann das Malen lassen, wenn das Talent zu
höchster Leistung fehlt, nicht aber das Bauen; ge
baut muß werden, ob nun Meister ersten Ranges
zur Verfügung stehen oder nicht, und Schöpfungen
gmialen Stils sind nicht zu erzwingen. Die Ver
leugnung der Mittelwerte ist dazu gefährlich bei
einem Zuhörerkreis, von dem nur wenige die
Grundlagen aller Bauwirkung, Verhältnisse und
Raumgestaltung, sicher aufzufassen gelernt habm
können. Für die Entwicklung des Bausinns ist es
mindestens ebenso wichtig, dm Unterschied zwischen
Nummer 5, offenbare Pfuscherei, und Nummer 3,
ehrliche Baugestaltung unter Anlehnung an gute
Muster, aufzuhellen, als den zwischen Nummer 1
und 3. Bei dem heutigen Stande unserer Bau-
kultür, wo die Sorge um die Qualität, mehr ujm
das Wie als das Was, noch unsere ganze Kraft
in Anspruch nimmt, wo unser Gefühl für architek
tonische Werte noch nicht gereinigt, und unser Sinn
für Rhythmus undHarmonie noch nicht geschärft
genug ist, kann nicht einzig und allein der mehr
oder weniger große Gehalt an originaler Gestal
tungskraft maßgebend für die künstlerische Würdi
gung eines Hauses sein. Bei der Baukunst, die
nicht vom Geschmack allein, sondern von Bedürfnis
fragen und von der Technik bedingt ist, liegm
die Verhältnisse nicht so einfach, wie z. B. beim
Kunstgewerbe. Wir brauchen zuvorderst Qualitäts
leistungen, mögen sie nun mehr von dem eigen
willigen Gestaltnngsgeist, dessen Blüte in der
mittelalterlichen Kunst liegt, haben, die uns Deut-
schm als die bodenständigere und ursprünglichere
erscheint, oder mehr von dem Geist der Renais
sance, die für uns, besonders in Kassel, auch Boden
ständiges hat. Qualitätsleistungm aber sind Rat
haus wie Stadthalle, auch wenn sie die Schule
der Renaissance nicht verleugnen, also nicht den
von Herrn Professor Bock verlangten „Deutschen
Stil" habm.
'Gegen die Entwicklung, wie sie nun einmal
war, läßt sich nicht anstürmen, und die Beein
flussung deutschen Schaffens durch die Renaissance
läßt sich nicht gewaltsam zurückdrängen. Es wäre
verkehrt, nicht anzuerkennen, worin uns die Re
naissance beim architektonischen Schaffen gefördert
hat, nicht zu würdigen, daß sie uns die Vorstellung
vom äußeren Raum gebracht und uns städtebau
lich groß hat dmkm lernen. Diese Erkenntnis wird
unsere neuen Ausdrucksformm, die hoffmtlich ton
angebend auch für unsere Nachbarvölker werden, in
ihrer Entwicklung ebenso beeinflussen müssm, wie
wir wünschen, daß sie vom Geist gotischer Bau
kunst befruchtet werdm möchtm. Der nme Stil
kann nur aus einer gewissm Wechselwirkung mit
den Architekturen anderer Länder entstehen, wmn
er nicht eine völlige Ausschließung vom Völker
verkehr bedeuten soll. Die Furcht, daß wir dabei
Französlinge werden könnten, liegt heute für ein
innerlich so starkes Volk nicht mehr vor. Weniger
„Deutscher Stil", als „deutsch denken auch beim
Bauen", d. h. wahr, echt und edel bäum, muß die
Forderung heißen. Wahr, echt und edel sind aber
Rathaus wie Stadthalle.