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überhaupt nicht wiederkam, da legte ich mir die
Frage vor: ob dieser Mann an seiner Philosophie
oder an seinen Renten zugrunde gegangen sei.
Wieder kann ich nur sagen: ich glaube beides.
Denn ein seligeres Ende kann sich doch ein guter
Mensch nicht wünschen.
So könnt' ich noch manchen dieser Wackeren
nennen, die sich täglich sahen und einander erst
dann bemerkten, wenn sie nicht mehr da waren;
wenn der eine, der ein Kaufmann gewesen, das
Geschäft liquidiert und der andere, der ein Pro
fessor war, das Kolleg geschlossen hatte. Aus den
vielen wurden immer wenigere, bis nur noch einer
blieb; und von diesem einen will ich nun reden.
Er war ein Portier. Nun glaube man nicht,
daß in Berlin die Portiers, um sich Leibesübung
zu machen, oder um sich von den gestrigen Sünden,
den „hestemis vitiis“, wie Horaz in der zweiten
Satire seines zweiten Buches so schön sagt, zu
befreien, oder um sich zum neuen Frühstück frischen
Appetit zu holen, oder um irgend welcher anderen
Ursachen willen des Morgens inr Tiergarten lust
wandeln. Weit davon entfernt. Der Portier, mit dem
wir es hier zu tun haben, war ein bescheidener und
nicht einmal sehr höflicher Mann in gesetzten
Jahren und von mittlerem Wuchs, der um diese
frühe Zeit des Tages eine blaue Schürze trug
und mit einem Besen in der Hand vor der Tür
seines Hauses stand. Ein altväterisches Haus war
dieses aus der Zeit, wo die Leute noch bauten, nicht
um das Staunen und den Neid derer zu wecken,
die es ihnen nicht nachzutun vermochten, sondern
um sich's selber bequem und angenehm zu machen.
Diese Leute suchten ihren Reichtum eher bescheiden
zu verbergen, als ihn offenbar für jedermann an
der Straße zur Schau zu stellen. Hohe Bäume
wölbten sich über dem Dach und bildeten dunkle
Alleen durch den parkartigen Garten, uralte Linden
und Eichen, an denen Gott und die Menschen
ihr Gefallen hatten. Im Sommer, wenn es noch
zu heiß war, konnte man sich hier im Schatten, den
die Bäume über den Weg warfen, ein wenig er
quicken, als wollten die guten Bewohner auch den
Vorübergehenden etwas von ihrem Wohlstand ab
geben; und im Winter, wenn die kahlen Zweige
voll Rauhfrost hingen oder von Eiskristallen fun
kelten, hatte man auch daran noch seine Freude.
Dann stieg aus dem dicken Schornstein ein Wölk
lein blauen Dampfes in die klare Luft, traulich
Zeugnis gebend von dem Leben dadrinnen und
gleichsam die Düfte von einem guten Morgenkaffee
mit sich führend; und dann um diese Jahreszeit
war es auch, wo der alte Portier in seinem vollen
Glanze erschien. Immer hielt er die Wege muster
haft sauber, und das war keine Kleinigkeit bei
diesem Eckgrundstück, das zwei halbe Straßenlängen
maß. Nun aber hätte man ihn fegen und kratzen
sehen sollen, wenn über Nacht Schnee gefallen oder
Glatteis eingetreten war. Wenn er Sand und
Asche streute, so ging's aus der vollen Hand; denn
wie die Herrschaft, so war der Diener. Man hatte
das angenehme Gefühl, wieder fest auf den Füßen
zu stehen, sobald man sein Gebiet glücklich erreichl
hatte. Doch gesprächig war er nicht, dieser Alte,
nicht einmal für Lob oder Dank empfänglich. Auch
vermied er es, Bekanntschaften zu machen; und
wenn er sein Werk vollbracht, nahm er den Henkel
korb über den Arm und ging in die nächste Straße
zum Budiker, um sich sein Frühstück zu holen.
So bin ich ihm unzählige Male Begegnet, auch
ihm immer uur dieselbe Zeit und immer an der
selben Stelle, so regelmäßig wie der Tag kommt.
Doch nichts auf Erden hat Bestand, und alt werden,
heißt verlieren. Freilich, was ging mich ein alter
Portier an, was kümmerten mich Menschen, mit
denen ich niemals ein Wort gewechselt? Es ist
nur das Gefühl, daß sich alles verändert, und
daß das Neue selten besser ist, als das Alte war.
Die guten Leute, die das geschilderte Haus, so
lange ich denken kann, bewohnt hatten, starben,
ein kinderloses Ehepaar, und das Grundstück ward,
ich weiß nicht an wen und für tvie viele Hundert
tausende, verkauft. Bis zuletzt sah man die mit
Blumen gefüllte Schale, den einzigen, aber stets
erneuten Schmuck des Bogenfensters; und bis zu
letzt sah man auch den alten Portier mit der
Schürze, mit dem Besen, mit dem Henkelkorb,
alles in der hergebrachten Ordnung, und er ohne
den mindesten Zug in seinem gefurchten Gesichte,
der auf eine Veränderung hätte schließen lassen.
Eines Tages aber waren blaue Zettel an den:
Plankenzaun angeklebt — denn nicht einmal eine
Mauer oder ein Eisenstacket hatte dieses prachtvolle
Grundstück —, auf den Zetteln stand gedruckt:
„Holz und Baumaterialien sind billig auf dem
Abbruch zu verkaufen", und alsbald begann die
Zerstörung. Die Bäume wurden abgesägt, diese
schönen Bäume, die vielleicht hundert Jahre ge
braucht hatten, um so hoch, so starkästig, so breit-
wipslig zu werden; ihre Stämme lagen wie Riesen
leichen auf dem Boden ausgestreckt, und das zer
zauste Laub war um sie her verstreut. Dann ging's
über das Haus her, das einst in Grün gebettete
Haus, in welchem zwei Menschen so viele Jahre
lang glücklich gewesen waren — nackt stand es
da, jeder Roheit der gedungenen Arbeiter preis
gegeben — in jedes Eckchen, in jeden Winkel konnte
man hineinsehen, in die kleinen Schlafzimmer des
niedrigen ersten Stockes, in den altmodischen Salon
des Erdgeschosses mit dem großen Fenster, in dem
noch immer die Porzellanschale hing, aber längst
mit welken Blumen. Die Balken und Steine
häuften sich, bis alles einem Blachfelde glich, auf
dem der Feind gehaust; wo tiefe Stille geherrscht,
dröhnten Axt und Hammer den ganzen Tag. In
langer Reihe standen die Baukarren aufgefahren,
die mit dem Schutt beladen wurden, während ab
getriebene Gäule mit ihren blödsinnigen Gesichtern
bis an die Nase in den Futterbeuteln steckten, wenn
sie sich nicht unter den Peitschen und den Flüchen
der Fuhrknechte zu ganz unerhörten Anstrengungen
aufrafften. Ode Sonne war, wo vormals die