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jedem schönen Herbstmorgen sieht er zu Füßen der
Herkulesanlage inmitten der Wilhelmshöher Park
anlagen im Schein der goldenen Oktobersonne die
Kuppel des Schlosses gleißen, das seit Jahrzehnten
der deutschen Kaiserfamilie als Sommerresidenz
dient und in dem nach dem Zusammenbruch der
„xrancks Nation" bei Sedan der dritte Kaiser der
Franzosen vom 5. September 1870 bis zum
19. März 1871 als Kriegsgefangener weilte, und
von dem aus er am 4. Februar 1871 sein an
klagendes, in Brüssel gedrucktes Manifest an das
französische Volk richtete. Vor 44 Jahren entstieg
er mit seinen Generälen Douay und Lebrun auf
eben dem Wilhelmshöher Bahnsteig dem Zuge,
von dem aus — Nemesis der Weltgeschichte —
auch jetzt tausende und abertausende seiner Lands
leute dem nahen Gefangenenlager zugeführt werden.
In eben diesem klassizistischen Bau, dem schönsten
Fürstensitz Europas, den des alten Kaisers Ritter
lichkeit Napoleon dem Dritten einräumte, hatte 60
Jahre zuvor dessen Oheim, der vielverschrieene
„König Lustik" seine verschwenderischen Orgien
gefeiert, den sein größerer Bruder aus dem Nichts
zum Beherrscher Westfalens gemacht hatte. Sieben
lange Jahre hatte hier der Benjamin der Napoleo
nischen Familie, der über eine Zivilliste von. 5 Mil
lionen verfügte, mit dem Geräusch seines allein
8 Millionen verschlingenden glänzenden Hofes von
französischer Lebhaftigkeit diese imposante Gnsam-
keit erfüllt; hier war mehr denn einmal mit
großem Pomp das Geburtsfest des allgewaltigen
Korsen begangen worden und hierhin war Jörome
mitten in der Nacht still und niedergeschlagen vom
russischen Feldzug zurückgekehrt.
Der Vollständigkeit halber könnte noch erwähnt
werden, daß auch der Vorgänger dieses von Jussow
und Du Ry erbauten imposanten Schlosses, der
aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts stam
mende und später veränderte Barockbau, währen
des siebenjährigen Krieges zwei Wochen lang 1200
Franzosen beherbergte, was seinem Innern nicht
gerade dienlich war. Es könnte ferner erwähnt
werden, daß das im Norden gelegene Schlößchen
Wilhelmsthal, eine Perle des deutschen Rokoko,
Lieblingsaufenthalt der Königin Katharina von
Westfalen war, daß in der Nähe des Schlosses
eine der letzten blutigen Schlachten des sieben
jährigen Krieges stattfand und Herzog Ferdinand
von Braunschweig, der im Schloß sein Haupt
quartier hatte, nach der Schlacht die gefangenen
französischen Offiziere zu Tische lud und sie zum
Nachtisch mit einer bis dahin verdeckt gewesenen
Schüssel voll goldener Uhren und anderen Kost
barkeiten bewirtete, und schließlich, daß drüben,
jenseits der Fulda, auf der Höhe des Sanders
häuser Berges im Sommer 1758 das hessische
Korps unter dem Prinzen von Isenburg jenes
unglückliche, aber ruhmvolle Gefecht gegen die drei
mal so starken Franzosen lieferte.
Noch näher liegend aber ist der Hinweis auf
das kleine, gleich dem Barackenlager an der Frank
furter Landstraße gelegene und von diesem etwa
eine halbe Stunde entfernte Schlößchen Schön
feld, dessen jetzt im Besitz der Stadt befindlicher
Park mit seinem alten Baumbestand zu einem
idyllischen Kleinod umgeschaffen wurde. Dieses so
manche Erinnerung an die Brüder Grimm fest
haltende Schlößchen, das sich in den Jahren là
bis 1809 im Besitz des Bankiers Karl Jordis
befand, des Schwagers von Clemens und Bettina
Brentano, von Achim von Arnim und von Sa-
vigny, erlebte seine eigentliche Glanzzeit gleich
falls unter Jérôme, der es von Jordis käuflich er
warb und die Umgebung des Parkes durch seinen
Hofarchitekten Leo Klenze umgestalten ließ.*) Fort
ab bildete das abgelegene Schlößchen das Stell
dichein der intimsten Freundinnen des Königs,
und mehr denn einmal sah man Jérôme nach
den Festlichkeiten in Kassel oder auf „Napoleons
höhe" sich mit einer der Damen seines Hofes dort
hin zurückziehen. Bor allem spielte sich hier der
Liebesroman des Königs mit der pikant schönen
Gräfin Diana von Pappenheim ab, die noch bei
der ersten Flucht Jérômes in diesem Schloß ihrer
schweren Stunde entgegensah und der ihre Nach-
kommin, die Sozialistin Lili Braun, in ihrem Er
innerungsbuch „Im Schatten der Titanen" eine
ebenso geistvolle wie nachsichtige Charakteristik
widmete.
Schweift der Blick der Franzosen — es sind
Vertreter aller Stände unter ihnen — von der
Höhe des Keilsbergs gen Norden, so begegnet er
zunächst an den Hängen des Weinberges der Kasseler
Gemäldegalerie, aus deren Schatz, wie erst kürz
lich an dieser Stelle ausgeführt wurde, in den
Jahren 1806 und 1807 einige Hundert der wert
vollsten Gemälde mit räuberischer Hand nach Paris
entführt wurden. Auch die ersten, seit dem 21. Ok
tober hier oben internierten Russen dürften sich,
soweit ihnen ihre Intelligenz dabei nicht im Wege
ist und ihnen materiellere Interessen jetzt nicht
weit mehr am Herzen liegen, daran erinnern, daß
die 38 besten dieser Gemälde bis auf den heutigen
Tag noch die umfangreiche Sammlung der Peters
burger Eremitage zieren. Auch sonst könnten sie,
falls sie sie je besessen haben sollten, geschichtliche
Kenntnisse auffrischen und mit ihren jetzigen fran
zösischen Bundesgenossen austauschen. Es war vor
101 Jahren, als das Streifkorps des russischen
Generalmajors Tschernitscheff in Kassel einzog und
damit dem Königreich Westfalen den Todesstoß
versetzte. Und noch ehe die Kasseler Bürger die
freudig aufgenommenen Kosaken in ihrer fremd
artigen Gewandung anstaunen konnten, jagte König
Jérôme mit seiner Gardedukorps auf eben jener
Frankfurter Landstraße an der Knallhütte vorüber
dem Süden zu. Noch einmal kehrte er zwar auf
wenige Tage zurück," um dann nach der Leipziger
Schlacht, von neuem durch russische Kugeln ver-
*) Philipp Losch, Schönfeld. 1913.