Full text: Hessenland (27.1913)

Hefsenland 
Hessisches Heimatsblatt 
Zeitschrift für hessische Geschichte, Volks- und Heimatkunde, Literatur und Kunst 
Nr. 24. 27. Jahrgang. Zweites Dezember-Heft 1913. 
Weihnachtssegen. 
Ich steh' auf dunkler Höh', es streicht die Nacht 
Mit schwarzen Schwingen über die Gefilde, 
Rings ruht der Wald in stummer Winterpracht, 
Und unterm Eise schläft der Dach, der wilde. 
Tief unten ruht das Dorf, ich seh' es kaum, 
Die Dämmrung deckte es mit dunkler Hülle .. 
Und durch die Nacht zieht leis der Weihnachtstraum: 
Wie Harfenion bebt's durch die heil'ge Stille; 
Und langsam rieseln Flocken schwermutsschwer 
Aus schwarzen Wolken, dichter, immer dichter: 
Da klingt im Tal ein Lied so hoch und hehr, 
Und mählich wird das Dämmerdunkel lichter; 
Rings läuten süße Glockenmelodien, 
Durch graue Nacht gleißt schimmernd Silberweben, 
Und liebe, blonde Weihnachtsengel zieh'n 
Hinab ins Tal, dort, wo die Menschen leben. 
Ein feligheitz, unfaßbar hell'ges Glück 
Durchklingt in süßen Harmonien die Welten: 
„Der Gottsohn führte Luch zum Ltcht zurück — 
Und Liebe soll den Todhaß Euch vergelten!" 
Marburg. Alfred Hahn. 
Das vorleben der Seele. 
Ein Stück germanisch-hessischen Volksglaubens. 
Die Seele war dem Urgermanen nicht das Un 
sichtbare, Unfaßbare, Unwägbare, als das sie uns 
modernen Menschen erscheint. Sie war ihm etwas 
Körperliches, ein wenn auch sehr verfeinertes Ma 
terielles — ein Hauch, ein Dunst, ein Wölkchen, 
ein Rauch, ein Flämmchen. Huldigten sonach 
unsre Urahnen und mit ihnen ihre naiven Nach 
fuhren einer Art Materialismus, so war bzw. ist 
Von Heinrich Franz. 
ihnen doch die Seele nicht wie den modernen 
Anhängern der bezeichneten Weltanschauung ein 
von dem Körper durchaus abhängiges Etwas, ein 
von biefent erst erzeugtes Verbrennungs- oder 
Schwingungsprodukt. Sie war ihnen vielmehr et 
was Selbständiges, das auch während seiner Ver 
bindung mit dem Menschenleibe diese seine ur 
eigene Selbständigkeit in verhältnismäßig hohem
	        
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