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Da fja&en Sie ein zerfahrenes aber heilsames
Leben, ein Leben, in welchem der active „Sturm
und Drang" später in's Passivum umgeschlagen
sind, das aber jetzo scheint friedlich einmünden zu
wollen.
Ernst Peter Wilhelm August Koch.
(April 1855).
Luxembg. 7 Juni 55.
Herzlichsten Dank, liebster Freund, für Ihre
beiden erquickenden Briefe. Den ersten, vom April,
hätt' ich früher beantwortet, wenn ich Sie sicher
in Marburg gewußt hätte. Ihre Andeutung, daß
Sie nach der frommen Stadt Phil.'s des Großm.
zögen, konnt' ich zwar nicht anders verstehen, doch
hatten Sie mir kurz vorher geschrieben, daß nach
den Frühlingsferien meine Briefe Sie in Berlin
treffen würden. Daher hab' ich mich erst bei
meinen Schwestern erkundigt.
Ach, lieber Altmüller, warum können wir denn
nicht zusammen leben? Wenn ich jetzt bei
dem wonnevollen Wetter durch die pitoresken Thäler
schleiche, dann liegt der späte Frühling so er
drückend auf mir, daß mir ordentlich wehe wird,
und das ist nicht der Körper, sondern die Seele,
die darunter leidet in ihrer Einsamkeit. Zwar
sind ihre großen Säle offen und angefüllt mit
Menschen und Philistern und, Gott sei Dank,
mit einem Reichthum von bürgerlichem Segen.
Aber die inneren Gemächer sind seit Jahren ver
schlossen, und die Luft darin ist zum Ersticken.
Da schneidet mir denn jede Nachtigall wie einem
Gefangenen durchs Herz, und dann muß ich mir
sagen, daß ich doch hier im fremden Lande eigent
lich keinen einzigen Menschen habe, dem ich mich
ganz hingeben könnte, wie ich es bei Ihnen thun
würde. Kommen wir beide einmal zusammen, so
werden Sie in mir ein recht glückliches altes Kind
finden, einen verrückten Poeten und tollen Pro
fessor, los und ledig lang gehegter Sehnsucht, und
Schloß und Riegel will ich sprengen, damit die
frische erquickende Luft hereindringt, mit der mich
Ihre Briefe angehaucht haben.
Herzlichen Dank zumal dafür, daß Sie mein
am 3/6 gedacht haben. 3 u. 6 sind zwar — 9,
der Musenzahl, aber 3/6 ist ein Bruch und etwas
Halbes und da haben Sie das Horoskop des
Menschen, der am 3. Juni 1808 zur Welt kam.
Freund! Nun hören Sie ein großes Wort!
Am 20. Mai d. I. gebar mir mein braves Weib
das 9 te Kind, ein Mädchen. Vier von diesen
Neun sind beim lieben Gott, vorausgesandte liebe
kleine Quartirmacher und Fourire und lebendige
Beziehungen mit dem Jenseits. Die fünf, die noch
mit mir hier unten wandeln, sind liebe gesunde
Kinder, von denen drei den männlichen und zwei
den weiblichen Stand ergriffen haben. Der älteste
ist bereits Gymnasiast, aber noch nicht mein
Schüler. Das Athenäum hat nämlich 8 Gymnasial-
und 4 Realclassen, und über dem ganzen s. g. aca-
demische Curse. Ich habe wöchentl. 19 Stunden.
Das Lehrerpersonal besteht aus 21 vom König er
nannten Professoren, die sich in ihren mittelalter
lichen schwarzen Togen, nebst Toque und Rabbat,
gar ehrwürdig ausnehmen, etwa wie Faust in der
1. Scene. Am ehrwürdigsten erscheint unter ihnen
der Prinz Rosa und ehemal. Candidat Hubertus,
der's nun doch endlich zu etwas gebracht hat und
nicht „untergegangen" ist, wie eine fromme
Kasseler Dame achselzuckend von mir sagte, als
ich die Feuerprobe in Spanien bestand. Wär' ich
ein Stern, so würde mir der Ausdruck leicht wehe
gethan haben. So aber bin ich nur ein leichter
Mensch und die gehen bekanntlich nicht leicht
unter. Aber unsere Hülfe steht im Namen des
Herrn, lieber Karl, und Er sei uns auch ferner
gnädig, uns und der frommen Kasseler Dame und
allen Kasselern, sie mögen Bier trinken oder nicht,
und auch dem vr. Pinhas. — Schade, daß Sie
nicht von Coblenz herüber gekommen sind. Sie
hätten nicht nur mein Herz, sondern auch die
„Lothring'sche Jungfrau" festlich geschmückt ge
funden, wegen der Anwesenheit unseres Königs,
seines Bruders und des Prinzen v. Preußen. —
Wo wohnen Sie denn zu Marburg. Ich kenne
dort fast alle Kneipen. Vor 8 Jahren war ich
dort in einem Bierhause (Lederer), der unbekannte
durstige Fremde, im zufälligen Gespräche mit einigen
unbekannten Studenten, und da geschah es mir
^um zweiten Male, daß man, als man hörte, daß
ich aus Luxembg. sei, sich bei mir nach mir er
kundigte. Dies schmeichelte mir mit solcher Gewalt,
daß ich ein 2tes Glas Bier bestellte, und mich
selbstgefällig, nachdem ich alle Auskunft über mich
ertheilt, erst beim Weggehen zu erkennen gab. Da
entstand ein allgemeiner Jubel, weniger über mein
Weggehen, als darüber, daß sie den Prinz Rosa
körperlich erwischt hatten und durch Wegstipitzung
seines Mantels zum Bleiben nöthigen konnten. —
Wollten Sie nicht die Güte haben, lieber Karl,
einmal gelegentlich auf dem dortigen Kirch
hofe vor dem Barfüßer Thore nach dem Grabe,
oder vielmehr dem kleinen Denkmale meines dort
ruhenden Vaters sehen? Es bekümmert sich Nie
mand darum und ich möchte doch nicht gern, daß
es verfiele. Sie finden das Grab etwa 20 Schritte
links vom Eingang, also nach der Stadt zu, es
ist mit einem eisernen Kreuz bezeichnet, das den
Namen meines Vaters trägt. Vergessen Sie's
doch ja nicht, und schreiben Sie mir darüber ge
legentlich. — Ich habe zuletzt in der Untergasse
beim Schreiner Hasselbein gewohnt, mit der ein
zigen Einsicht in die „Philosophie", die ich jemals
gewonnen habe. Es waren doch schöne Jahre!
aber daß sich das academische Leben so verändert
hat, wie Sie es in kurzen Worten treffend schildern,
habe ich voraus gesehen. — Meine diesjährige
Reise nach Hessen ist sehr zweifelhaft. Wenn ich's
aber machen kann, komm ich gewiß gern, gegen
Ende August. Dort müssen wir aber u. a. einmal
im Ritter speisen, dessen Wirth sich einst dankbar
gegen mich bewies, wegen des Büchleins, und in
dessen Saale ich mich immer sehr wohl befunden