Full text: Hessenland (24.1910)

NSSL, 243 
Leben einzutreten, so erbauten wir uns nun in der 
jungen Reichshauptstadt an der ehrwürdigen und 
imponierenden Erscheinung der Männer, denen wir 
das Reich und das Reichsland verdankten, des alten 
Kaisers Wilhelm I., Bismarcks und Moltkes. Und 
K., dem der Respekt vor jeder tüchtigen Persön- 
lichkeit und die rückhaltlose Bewunderung über 
ragender menschlicher Größe tief im Blute steckte, 
hat die Eindrücke der Berliner und Straßburger 
Semester zusammengeschlosten als den sesten Unter 
grund seiner nationalen und politischen Gesinnung. 
Ostern 1879 kehrte er, während mich Krankheit 
von der Universität fern hielt, nach Straßburg 
zurück und schloß hier seine in Berlin begonnene 
Promotionsschrist ab: im Anfang November bestand 
er das Rigorosum unter Scherers Nachfolger Ernst 
Martin — der ihm nun (am 13. August d. I.) 
um einen Tag im Tode vorausgegangen ist. Unsere 
Studien hatten deutsche Philologie, Sanskrit und 
Sprachvergleichung, daneben auch alte und neue 
Sprachen umfaßt, sie waren zumeist parallel ge- 
gangen und hatten sich nur zuletzt teilweise ge 
schieden, indem ich unter ten Brink das Englische, 
er die Geschichte neben dem germanistischen Haupt 
sache bevorzugte. Seine zum Buch ausgestaltete 
Dissertation erschien als Heft 43 der damals von 
ten Brink, Martin und Scherer herausgegebenen 
„Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kultur- 
geschichte der germanischen Völker" 1881 : sie brachte 
die erste kritische Ausgabe eines der reizvollsten Ge 
dichte der mittelhochdeutschen Blütezeit, der „Kind 
heit Jesu" von Konrad v. Fußesbrunnen, einem 
österreichischen Autor. Als Heft 44 ist ihr alsbald 
meine eigene Erstlingsarbeit gefolgt- so sind wir, 
wie in das Studium, auch in die literarische Öffent 
lichkeit zusammen eingetreten. 
Bald nach dem Doktorexamen siedelte K. nach 
Marburg über, um sich dort für die Prüfung als 
Kandidat des höhern Lehramtes vorzubereiten. Den 
Abstand des wissenschaftlichen Strebens, wie er da 
mals zwischen Marburg und Straßburg zu Tage 
trat, empfand er lebhaft, aber nur anfangs pein 
lich, denn bald tauchte er noch einmal in dem 
studentischen Treiben unter, das ihn in Marburg 
mit ganz anderem Reiz als in Straßburg und 
Berlin erfaßte: er schloß sich der Verbindung Ger 
mania an, in der er einzelne alte Freunde fand 
und viele neue hinzugewann, und er ist ihr auch 
durch die verschiedenen Wandlungen bis zur Burschen 
schaft treu geblieben: Band und Mütze der Mar- 
burger Germanen schmückten seinen Sarg, als er 
in die Feuersgluten hinabsank. 
(Schluß folgt./ 
Lieb Vaterland, magst ruhig fein. 
Eine Jugenderinnerung aus großer Zeit von Heinrich Bertelmann. 
(Fortsetzung.) 
II. 
Es war ein wunderbarer Tag. Alle Arbeit blieb 
liegen und stehn. Die sich begegneten, reichten 
einander bewegt die Hände. Die Frauen weinten. 
Der alte Schäserhöser, der seit Jahr und Tag mit 
seinem Nachbar verfeindet war, hatte mit deflen Frau 
ein langes Gespräch unter dem Fenster geführt. 
Der Gewohnheit Bürde brach aus dem Bande. 
Der Kantor hatte die Kinder früher entlasten. Die 
Ackerleute blieben heute allesamt mit Pflug und 
Wagen im Kruge hängen. 
Etwas Unerhörtes mußte geschehen sein. In dem 
vielgenannten Namen „Sedan" schien alles zusammen 
gefaßt. 
Der Pfarrer, der von Haus zu Haus ging, kam 
bei uns vor. Ein großer Sieg war errungen. Den 
Franzofenkaiser hatten sie gefangen. Das Ende des 
Krieges war da. Das frohe Wort von der Heimkehr 
der Sieger wurde wach. wenn gleich die bange Frage 
nach den Verlusten nicht stumm werden wollte. 
Mein.Vater holte eine Flasche Wein aus dem 
Keller, die wohl von einem Krankheitsfälle herrührte. 
Der Knecht mußte hereinkommen, und die beiden 
stießen mit dem Pfarrer an und tranken aus eine 
glückliche Wiederkehr der Dorfgenossen. 
Und erst der Abend! Mit meiner Schwester 
suchte ich alle Flaschen zusammen, die sich in Küche 
und Keller austreiben ließen. Auf jede pflanzten 
wir ein Talglicht. 
Böllerschüffe donnerten von den Bergen. Die 
Glocken begannen ihr dröhnendes Lied. Die Dorf 
kapelle marschierte heran, Burschen und Mädchen, 
Kinder und Frauen hinterher. Das ganze Dorf 
war auf der Straße. 
Run flammten hinter den Fenstern die Lichter 
auf. Und wer keine Kerze austreiben konnte, griff 
zum blankgeputzten Öllicht. 
Die jubelumrauschten, ehrwürdigen Bauernhäuser 
schauten staunend aus den nie erlebten Trubel her 
nieder, als überlegten sie, wie es anzufangen sei, 
den festen Grund zu verlaffen. um mit einzustimmen 
in das Gejauchze der sonst so stillen Dorfbewohner. 
Längst vergeffene Erinnerungen wurden wieder 
wach. Das Getrappel jener französischen Armee,
	        
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