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feiten mit den Landständen führte, welche die
Rotenburger Hinterlassenschaft als Staatseigen-
tum betrachteten?)
Einige Zeit nach dem Abgang Hassenpflngs
richteten die Augen des gesamten Deutschlands ;
sich in einer sehr unangenehmen Angelegenheit
auf die knrhessische Regierung und insbesondere t
aus den Kurprinzen. Es handelte sich um den
Prozess gegen Sylvester Jordan, den nn- ^
vergeßlichen Schöpfer der kurhessischen Verfassung.
Der Apotheker Döring, wegen Todschlags und
Hochverrats in Preußen zu langjähriger Freiheits
strafe verurteilt, wollte sein Schicksal dadurch
lindern, daß er Jordan der Mitwissenschaft an
dein Frankfurter Attentat von 1833 beschuldigte.
Infolgedessen nahm
die kurhessische Re-
gierungJordan unter
dem Verdacht hochver
räterischer Umtriebe
im Sommer 1839
in Untersuchungshaft.
Fast sechs Jahre lang
zog diese sich hin,
und schon 1840 hatte
Franz Dingelstedt
in seinem berühmten
„Osterwort aus Kur
hessen" dem Kur
prinzen zugerufen:
„Neig' Dein Szepter,
Friedrich Wilhelm, zu
erlösendem Bescheid!"
Der Kurprinz aber
ließ dem Prozeß, der
schließlich mit der
Freisprechung Jor
dans 1845 endete,
seinen Lauf.*) **)
1841 verlor der Kurprinz seine Mutter, die
allverehrte Kurfürstiu Auguste, und hatte von
der hessischen Fürstenfamilie nunmehr nur seine
Schwester, die unvermählte Prinzessin Karoline,
in seiner Nähe. Seine jüngere Schwester Marie
war bereits seit 1825 mit dem Herzog Bernhard
von Sachsen-Meiningen verheiratet. Seine eigene
Familie war auf drei Töchter und vier Söhne
angewachsen, denen noch zwei Söhne folgten.
Die aus der ersten Ehe seiner Gemahlin hervor-
gegangeuen beiden Söhne, welche den Namen
*) Über die eigenartigen Verhältnisse, unter denen die
Rotenburger Quart zurückfiel, vergl.: „Eine mm ventris",
„Hessenland", Jahrgang 1891, S. 812.
**) Vergl. „Sylvester Jordan" von Friedrich Münscher.
„Hessenland", Jahrgang 1889, S. 282 f. und S. 296 f.
von Scholley erhalten hatten, waren ebenfalls
an seinem Hof erzogen worden und in öster
reichische und preußische Dienste getreten.
Fünf Monate nach dem Tode der Kurfürstin
Auguste ging Wilhelm II. mit der Gräf in Reichen-
bach eine rechtsgültige Ehe ein. Die Gräfin konnte
sich aber ihrer rechtmäßigen Hausfrauenwürde
nicht lange erfreuen, denn schon am 12. Februar
1843 starb sie. Ein halbes Jahr später ver
mählte Wilhelm II. sich abermals. Baronin und
bald daraus Gräfin von Bergen wurde seine
dritte Gemahlin genannt, die dem altadeligen
Geschlechte der Berlepsch entstammte. Der Kur
fürst lebte vorzugsweise mit seiner jungen Ge
mahlin in seiner Villa am unteren Mainthor zu
Frankfurt, und an
eine Wiederkehr in
seine Residenzstadt,
um die Zügel der
Regierungvon neuem
zu ergreifen, war nun
mehr nicht zu denken.
Wenn auch der
Kurprinz -Mitregeut
im Schloß Bellevue
zu Kassel, wo er am
18. Dezember 18-12
den Landtag persön
lich eröffnete, in der
Thronrede sagte, daß
der Zustand des Lan
des fortwährend be
friedigende Entwick
lung bekunde, Wissen
schaft und Künste mit
Sorgfalt und Liebe
gepflegt würden, die
Verbesserung des ös-
sentlicheu Unterrichts
gute Früchte nicht verkennen lasse, Gewerbe und
Landwirtschaft zu einer größeren Vervollkommnung
vorschreite und die Lage des Finanzhaushaltes
zufriedenstellend sei, so standen doch die that
sächlichen Verhältnisse hiermit nicht überall im
Einklang. Dieselben krankten jedoch in nicht
höherem Maße an den allgemeinen politischen
Mißständen der vormärzlichen Periode, wie in
anderen Bundesstaaten, ja verdienten vor diesen
in sehr vieler Beziehung den Vorzug. (Vergl.
Bähr, „Das frühere Kurhessen".) Der Prinz
schien aber gleich seinem Vater vor Erteilung der
Verfassung, von dem wahren Zustand des Landes
nicht unterrichtet zu sein, oder bei der Annahme,
es sei alles aus das beste bestellt, sich einem Irr
tum hinzugeben. Er ließ es deswegen an der
Sricdrict) Wilhelm I., Kurfürst von liesse».