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den anderen deutschen Territorien wie auch im
Reich als solchem vor und nach 1500 ihre Wellen
schlugen. Weit wichtiger, aber gerade am wenigsten
beachtet, ist das Ergebniß, das sür die Geschichte
der Reformation aus den verschiedenen Phasen
jenes Kampfes in Hessen abfällt. Diese Phasen
lassen nämlich in ganz unzweifelhafter Deutlichkeit
schon politische Konstellationen erkennen, in deren
Richtung sich später die ernestinischen Wettiner und
der durch Anna's zielbewußte Politik seiner Land
stände sicher gewordene Landgraf Philipp als ent
schiedenste Verfechter der die Resormationszeit be
herrschenden neuen Gedanken aus kirchlichem und
staatlichem Gebiet im Gegensatz zu den Habsburgern,
den albertinischen Wettinern und den Hohenzollern
zusammenfinden sollten.
Insofern darf den Verhältnissen in Hessen zu
Beginn des 16. Jahrhunderts, wie sie durch die
Erbverträge mit Sachsen und Brandenburg, die
landständische Entwickelung und die beiden politischen
Testamente Wilhelm's des Mittleren vom 28. Juli
1506 und 29. Januar 1508 geschaffen waren,
ein ganz erheblicher Antheil an der Neugestaltung
der Dinge in Deutschland während der nächsten
Jahrzehnte der lutherischen Reformation zuerkannt
werden. Es ist eine Vorbereitungszeit, eine Zeit
jugendsrischer und kampfesfroher Werdelust, die in
der kühnen und klugen, schönen und lebensdnrstigen
Hessenfürstin, Minerva nicht minder als „Frau
Venus", ihre Verkörperung erblicken durfte.
Daß Anna durch ihr prinzipielles und unent
wegtes Festhalten an den Prärogativen der landes
herrlichen Gewalt ihres Sohnes und ihren Sieg
über die landständische Fronde den kirchlichen
Neuerungen den Boden geebnet hat, zu denen sie
dem jungen Landgrafen zu folgen sich doch nicht ver
stehen mochte, bildet eines der tragischen Momente
ihres wechselvollen, von Lust und Leid gleicher-
maßen stürmisch bewegten Lebens. Schade, daß der
Verfasser seine Untersuchungen nicht in der Richtung
der Frage ausgedehnt hat, in welcher Weise etwa die
notorisch auch in Hessen, namentlich schon unter
Wilhelm dem Mittleren, angestellten Reformversuche
auf kirchlichem Gebiet, d. h. zunächst der Klöster,
ans die politischen Verhältnisse während der Vor-
inundschaftszeit unb danach ans die von Landgraf
Philipp eingeschlagene resormatorische Richtung ein
gewirkt haben.
Es ist eigenthümlich, wie oft kritische Zeiten
der hessischen Geschichte durch thatkräftige Fürstinnen
überwunden worden sind. In Anna von Mecklen
burg lebt der Geist Sophiens wieder auf in einer
Ursprünglichkeit, Größe und Feinheit, gegen die die
Politik ihrer Schwägerin Anna von Braunschweig
nur das plumpe Jntriguenspiel einer eitlen Kammer-
fraii ist. Und fast möchte es scheinen, als habe
der Verfasser seiner begreiflichen Vorliebe für seine
Heldin manchmal die Zügel etwas schießen lassen;
zu solch glänzender und begeisterter Diktion erhebt
sich oft seine Darstellung. Leider sind wir jedoch,
da das verarbeitete Material noch nicht im Drucke
vorliegt, der Möglichkeit beraubt, Einzelheiten nach
zuprüfen. Allein in dem Buche fügt sich alles so
ungezwungen und natürlich an einander, daß wesent
liche Züge jedenfalls nicht verzeichnet sein können
und wir dem Verfasser auch gern und vertrauens
voll in seine wenigen, urkundliche Mängel deckenden
Kombinationen folgen. Eine Reihe von Fragen
bleibt dabei immer noch offen; der psychologische
Kernpunkt verhüllt sich wiederholt (z. B. S. 57, 95).
Vielleicht liegt dies daran, daß der Verfasser in
der Benutzung der Archive doch wohl etwas zu
wählerisch vorgegangen ist. Gar nicht zu Rathe
gezogen ist z. B. das K. k. Statthaltereiarchiv in
Innsbruck, obwohl Anna im Herbst 1514 hier persön
lich ihre Sache vor dem Kaiser vertreten hat (S. 152).
Für die engen Beziehungen wenigstens zwischen
Max I. und Wilhelm dem Mittleren in dem Psalz-
grafenkrieg (1504/5), sür die der Landgraf nicht
bloß in seinem Testament (S. 62), sondern noch
kurz vor seinem Tode in einem eigenen Brief an
den Kaiser Worte fand, enthält das Innsbrucker-
Register Bd. V S. 79 (1504 und 1505), 1069
(1505) und 97 (1509) vier interessante Vermerke,
die dem Verfasser, der sich nur auf Rommel beruft,
offenbar unbekannt geblieben sind. Allerdings kenne
ich jenen Registerband nur bis zum Jahre 1510,
zweifle aber nicht, daß er auch weiterhin noch, zwar
nicht etwaige Schreiben selbst, aber Vermerke darüber
bergen wird, die zu weiteren Nachforschungen führen
können. Solche hätten sich z. B. aus die zahl
reichen Innsbrucker „Kopialbücher von Regiment
und Kammer", speziell Maximilian I. „Geschäft
vom Hof", „Entbieten und Bevelch" und „Missiven",
sowie auf die „Maximiliana-Akten" (22 Fascikel!)
zu erstrecken. Daß der Kaiser seinem landgräflichen
Freund gegenüber gelegentlich auch einmal schärfere
Saiten aufzuziehen wußte, zeigt die Pap.-Hand-
schrift Lehmann p. 3 Nr. 13e (1505 April 16)
der ebenfalls nicht benutzten Heidelberger Universi
tätsbibliothek. Archivalien wenigstens über Wilhelm
den Mittleren finden sich auch im Kgl. Haus
und Staatsarchiv zu Stuttgart (z. B. unter Chur-
Mainz, 1506 und 1507).
Endlich noch ein paar kleine Ausstellungen und
Wünsche. Das Geburtsjahr Anna's erfährt man
nur aus dem Titel; von ihrem Geburtstag ist
überhaupt nicht die Rede. Das moderne Schlag
wort „partikularistisch" würde man S. 87 um so