229
England ging, wurde ich in die Kinkel'schen Kreise
und von ihm selbst in die deutsche Gesellschaft für
Kunst und Wissenschaft eingeführt. Die imposante,
machtvolle Persönlichkeit Kinkels, des Hünen mit dem
klassischen Antlitz, hat keiner wieder.vergessen, der
jemals mit ihm verkehrt hat. Auch unseren deutschen
Londoner Turnverein, wo viele Hessen, darunter
Kasselaner, neben der Gymnastik gemüthliche deutsche
Geselligkeit fanden, besuchte er gelegentlich im
Interesse des landsmannschaftlichen Lebens. Ich
selbst habe damals auch den schon oben erwähnten
wackeren Kasseler Gardisten Zinn, Dr. Kellner's
Befreier, kennen gelernt. Er war Buchdrucker und
lebte später in recht guten Verhältnissen, wie ich
mir 1889 auf der Redaktion des „Hermann", der
von Kinkel gegründeten Zeitung, sagen ließ.
Das Interesse, welches Kinkel den Kurhessen im
Versassnngskampfe und seinen Folgen allzeit widmete,
bekundete er mir im Jahre 1865 persönlich durch
die Bitte, ich möge in einer Versammlung von
Teutschen in Seyd's Hotel auf dem Finsbury
Square in London, wo er selbst über die zer
fahrenen mecklenburgischen Zustünde zu reden hatte,
einen kurzen Bericht über Kurhessen geben. Ich
that es und verwob damit auch die Angelegenheit
des Kasseler Bürgers Wachenfeld und seiner
Reitbahn, die unserm Vater, dem Obergerichtsanwalt
Henkel, als Vertheidiger Wachenfeld's wegen
seines freimüthigen Auftretens eine Festnngsstrafe
zuzog, die allerdings durch die bald darauf ein
ziehenden Preußen aufgehoben wurde.
Kinkel wurde im folgenden Jahre nach 16jährigem
Exil aus englischer Erde als Professor der Kunst
geschichte nach Zürich berufen. Bon dort aus schrieb
er mir häufig über politische und literärische Dinge
und überraschte mich eines Tages auch mit der
Nachricht, daß er aufgefordert sei, eine Reihe von
Vorträgen auch in unserm Hessenlande, namentlich
in Kassel, zu halten.
Ich befand mich auf der Ferienreise nach England
vorübergehend in Kassel, als ich unerwarteterweise
vor dem Museum am Friedrichsplatz die Hünen
gestalt Kinkel's gewahrte, und zwar zwischen zwei
jugendlichen Trabanten, deren liliputartiger Körper
umfang ein auffallendes Relief gegen Kinkel's
Figur bildete. Nach der ersten Begrüßung erfuhr
ich, daß der Kasseler Kaufmännische Verein, wo
er am Abend jenes Tages einen Vortrag über
Lessing halten sollte, ihm jene beiden Jünglinge
als Wegeweiser beigegeben habe und daß es den
selben nicht gelingen wolle, die Bildergallerie und bie
Landesbibliothek zu finden. Tie beiden Satelliten
waren froh, in Gnaden entlassen zu werden. Ter
Museumsinspektor L. hatte die Güte, uns persönlich
herumzuführen und war nicht wenig überrascht.
als ich ihm den Begleiter vorstellte. „Prinz Wil
helm ist gerade im Museum," sagte er, „ich will
die Herren bekannt machen." Kinkel stutzte einen
Augenblick, des irrthümlichen Glaubens, es handle
sich um einen Hohenzollern. Der Inspektor be
richtigte: „Sohn des ehemaligen Kurfürsten von
Hessen" und stellte dann vor. Nach flüchtiger
Besichtigung der Kuriositäten, die dem heiter aus
gelegten Dichter einige Sarkasmen entlockten, zeigte
L. dem Prinzen das hessische Krönnngsschtvert mit
einer lateinischen Inschrift, worin übrigens Realschul
direktor P., der sich uns angeschlossen, einen gram
matischen Schnitzer entdecken wollte. Auch reichte er
uns den Hut von Otto dem Schütz, wohl in der
Erwartung, Kinkel werde demselben ausnehmende
Aufmerksamkeit zollen. Da aber sowohl der letztere
wie der Prinz die erhoffte Huldigung unterließen,
schienen P. und der Inspektor einigermaßen be
troffen. Ich war aber von England her bei
Kinkel daran gewöhnt, daß er sich in Aus
stellungen und Sammlungen lediglich dem künstlerisch
Bedeutenden, niemals den „Merkwürdigkeiten" zu
wandte. Bewunderung und Anerkennung dagegen
zollte er in reichem Maße der Bildergallerie an
der Bellevue, wo er uns denn auch mittheilte, daß
es ihm von Zürich aus gelungen sei, von den
Finanzmagnaten und Mäcenaten der Schtveiz weit
über hunderttausend Franken für die Gründung
eines Kunstmuseums in Zürich zu „erbetteln".
Kinkel wohnte im Hotel du Nord, wo er P. und
mich zur Wirthstafel einlud, und da wir zufällig
einer äußerst zahlreichen Töchterfamilie von den
Gestaden Albions gegenüber zu sitzen kamen, so
entspann sich sofort eine lebhafte Unterhaltung.
Kinkel sprach das Englische natürlich mit idiomatischer
Richtigkeit, aber mit so auffallend schleppendem
Rhythmus, daß mich der paterfamilias aus seiner
über den Tisch gereichten Visitenkarte fragte, was für
ein Landsmann der interessante Riese sei. Beim
Kaffee gab's ein überraschendes Intermezzo. Man
vernahm ein Rauschen vieler Gewänder und ein
Durcheinander weiblicher Stimmen im Nebengemache,
worauf der Oberkellner aus einem Teller die Karten
eines Schwarmes von Kasseler Damen brachte, die
sämmtlich sich von Kinkel die Ehre eines Sprüchleins
im Stammbuch erbaten. Kinkel ging zwar lächelnd
hinaus, kam aber so bald wieder, daß er unmöglich
in so knapper Frist den Wunsch der Schönen erfüllt
haben konnte. Auf unserem zweiten Gange durch
die Straßen Kassels, wo sich P. uns wieder an
schloß, erregte der mächtige Mann im schneeweißen
Lockenhaupt und Vollbart, mit der weithin dröhnenden
Stimme und den Riesenschritten eben so viel Auf
sehen wie weiland in London. Was Goethe in
dem bekannten Reiseberichte von der Königstraße in