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„Mir aber gäbest Du des Liedes Kraft,
Mich zu befrei'« von allzu heißen Gluthcn,
Von wilder Noth und sel'ger Leidenschaft,
Tie uns'res Leibes schwachen Bau durchfluthen."
Es ist ein bescheidener, einfacher Titel, den sie
ihren neuen Liedern gegeben hat. Aber welche Fülle
von Schönheit umschließt der Name. Es ist ein
Buch voll weicher, inniger Melodik, ein Buch von
unsagbarer Schöne. Da sind Perlen, die selten sind,
Lieder, die sofort in uns wirken, die den Leser
berauschen, sich leise, ob man will oder nicht, in's
Herz einschmeicheln, die in uns klingen und singen,
itvch lange nachher, als ob wir sie eben erst gehört
hätten. Wohllautende, flüssige Musik steckt in
allen ihren Liedern, und ich bitt überzeugt,
daß manche direkt zu Volksliedern würden, wenn
sie in die richtigen Hände sielen. Eittige darin
sind so wunderbar sein und abgetönt, daß ich sie
immer vor mich hinsagen möchte.
Ein gottbegnadetes lyrisches Talent verrieth
schon der erste Band ihrer Gedichte (Leipzig, 1898;
7. Anst. 1900). In noch hervorragenderem Maße
zeigen es ihre neuen Gedichte. Ein erhebliches
Fortschreiten ist unverkennbar. Zwar von einer-
eigentlichen Entwicklung kann keine Rede bei ihr
sein. Sie trat als ausgereifte Dichterin auf den
Plan, nachdem sie ihre frühesten Erzeugnisse, etwa
150 an Zahl, vernichtet hatte. Nur in der noch hier
und da ungeübten Form ließ sich ein Entwicklungs
gang bei ihr konstatiren. Hingegen ist in ihrer
neuen Sammlung das Stoffgebiet erheblich erweitert,
die Gedankenfvlge ist stetiger, die Diktion ab
geklärter, reiner geworden. Ihre ganze Poesie
gemahnt mich an einen seltenen Herbsttag: mild,
sonnig, klar, tiefes Glücksgesühl in uns weckend,
und doch liegt schon eine leise Ahnung des Winters,
des Todes darüber. Die sonnigen Sommertage
sind vorüber mit ihrem leuchtenden Glück; die
Dichterin hat einen großen Schmerz hinter sich,
er ist zwar noch nicht ganz verwunden, aber er
hat sie stärker und reifer gemacht.
Ganz besonders ist an ihrem neuen Buch die
gerade^: staunenswerthe Glätte und Sauberkeit
der Form zu rühmen. Aus 273 Seiten ist
mir kein einziger das Ohr beleidigender Reim
oder eine sonstige Härte im Ausdruck aufgefallen.
Nur in einem Punkt theile ich nicht ihren Ge
schmack. Das sind die sich sehr häufenden Di-
minutiva: „Wölkchen", „Bäckchen", „Nestchen",
„Röckchen" und ähnliche „Kosewörtchen". Besonders
in den sonst so grandios durchgeführte!: Natur
stimmungsbildern verfehlen sie völlig ihre Wirkung,
und gar im Reim sie anzuwenden, wie es sich
einmal findet (S. 134), scheint mir nicht sehr-
geschmackvoll. Den Rhythmus beherrscht die Künst
lerin mit einer Meisterschaft, wie ich sie außer bei
Goethe nirgends in solchem Maße erreicht finde.
In Gedichten wie „Sieg der Lust", „Wanderer
im Nebel", „Die Windsbraut", „Sturm
nacht", „Schlittenfahrt" versteht sie es trefflich,
den freien, natürlichen Rhythmus des augenblicklichen
Affekts zu binden, ohne ihn irgend zu zwingen. Nur
vollendete Sprachbeherrschung und feinstes musika
lisches Empfinden ermöglichen eine solche Technik.
Zweifellos ist sie in dieser Beziehung formell von
ihrem großen Vorbild Goethe inspirirt. Auch
inhaltlich ist sie von ihm nicht ganz unabhängig.
Die Situation in „Sieg der Lust" und „Erlösung"
erinnert leise an die Hexenküche im „Faust", in
ersterem Gedicht klingt auch „Ueber allen Wipfeln
ist Ruh" ziemlich deutlich herein:
„Spürst Du der Flammen verzehrenden Hauch?
Bälde, ach. balde packt sie Dich auch."
Das sind unbewußte Anklänge, für die sie
nichts kann, vielmehr beweist die Abhängigkeit
gerade von Goethe, daß sie ihm wesensverwandt
ist. Kleine Dichter haben ihn nie nachgeahmt,
weil sie dem Fluge seines Genius nicht folgen
konnten. Anna Ritter ist eine große Goethe
verehrerin, sie beschäftigt sich täglich mit ihm,
und sie liest ihn mit immer wachsendem Interesse.
In einem Gespräche beklagte sie einmal, daß das
Leben so kurz sei, allein um Goethe eindringender
kennen und verstehen zu lernen, wünsche sie. daß
ihr Leben noch mal sv lang sei. Das ist cha
rakteristisch für sie. Auch hat sie in einem ihrer
Gedichte „Auf dem Goethe weg zum Torf
haus" dem Altmeister ein herrliches Denkmal
gesetzt:
„Weit hinter mir. von Nebeln eingehüllt,
Liegt nun der Gipfel, der auch Dich empfangen!
Dieselben Wege, die Du einst gegangen,
Befreiung suchend, fern der lauten Welt,
Beschreit' ich nun, und meinen Pfad erhellt
Dieselbe Sonne, die Dein Haupt umfangen.
.Du bist mir nah', ein still' Gedenken füllt
Das Herz mir ans: Durch dieses Waldes Schweigen
Seh' ich Dich einsam, kraftvoll aufwärts steigen:
— ans weiß verbrämten Bogen
Trittst Dn hervor, ein dunkler Mantel wallt
Um Deines Leibes blühende Gestalt.
Du hast den Hut tief in die Stirn gezogen.
Als wolltest Tu. ganz in Dich selbst versenkt.
Bon keinem Bild der Erde abgelenkt.
Hinunter steigen in Dein eigen Leben,
Den Räthselschatz der Tiefe aufzuheben." —
Anna Ritter ist eine Dichterin, die alle Stiin-
mungen, selbst die feinsten und flüchtigsten, zu
haschen und zu halten weiß. Für alle, auch
die unbedeutendsten Empfindungen findet sie den
rechten Ton. Unter den 183 Gedichten findet