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Ver Kirsch in den herrschen Wäldern.
„Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst", kann
nur noch eine kleine anserwählte Schaar der
hessischen Waidmänner singen. Denn das edle,
schöne Wild ist in den Waldungen des Hessen
landes weit seltener geworden als iit früheren
Jahrhunderten. Das ist nicht zu bedauern der
vielen Schießer wegen, denen es ja einerlei sein
kann, ob sie eine verwilderte Hauskatze oder den
König des deutsches Forstes erlegen; wohl aber
bedauern wir die stetige Abnahme des Rothwildes,
werrn wir an den liebevollen Beobachter, den
rechten Waidmann denken, dem der edelste und
schönste Theil des Jagdvergnügens verloren geht.
Wer sich aber auf den Standpunkt des Nutzens
stellt, der ist schwer zu widerlegen; Geweih, Haut
und Wildpret des Hirsches machen nicht im Ent
ferntesten den Schaden wieder gut, den das Roth
wild (wenn auch nicht in dem Grade wie das
Damwild) dem geordneten Waldbaue thut; viel
leicht noch weniger ersetzt uns der geringe Nutzen
die Nachtheile, die der Landwirthschaft zugefügt
werden.
Seit der Regierungszeit Philipp's des Groß
müthigen, also seit reichlich dreihundert Jahren,
finden sich genauere Aufzeichnungen über den
Wildstand in Hessen. Erst in den letzten Lebens
jahren jenes berühmten Landgrafen scheint die
Anzahl der Hirsche zugenommen zu haben. Im
Jahre 1558 wurden 211 Stück Rothwild in die
fürstliche Küche zu Kassel geliefert, 122 hatte
Philipp selbst erlegt, davon die große Ueberzahl
auf regelrechtem Pirschgauge (102). Im Winter
desselben Jahres erlagen nicht weniger als 75 Stück
den Wölfen, und zwar allein im Seülingswalde.
Das giebt uns von der Häufigkeit des Hirsch
wildes im damaligen Hessen ein anschauliches
Bild. Philipp's Nachfolger Wilhelm IV. war
ein leidenschaftlicher Waidmann, unter ihm wird
sicherlich keine Abnahme des Wildes eingetreten
sein. Er schoß alljährlich nur 200 bis 250 Hirsche.
Biel ärgere Berwüstuugen richtete der strenge
Winter von 1570 auf 1571 in ihrem Bestände
an. Im Seülingswalde erlagen 254 Thiere
dem Hunger und der Külte, 93 davon wurden eine
leckere Beute der Wildschweine. Im Reinhards
walde schützte man in diesem Jahre den Verlust
an Nothwild und Rehen sogar aus 3000 Stück,
wenn auch wohl viel zu hoch. Trotz dieser be
deutenden Einbußen glaubte man am Ende desselben
Jahrzehntes, daß jährlich 360 Hirsche und 470
Kühe ohne Schädigung der Wildfuhr in Hessen
abgeschossen werden könnten, überdies noch 70
Hirsche und 40 Hindinnen im Schmalkaldischen.
Im dreißigjährigen Kriege thaten die zügellosen
Soldatenhorden und die Zunahme der Wölfe den:
Wildstande einigen Abbruch. Immerhin wurden
aber in den vier Jahren 1677-1680 wiederum
609 Hirsche, 495 Thiere und 167 Jährlinge er
legt. Seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts
schritt man zu Gunsten der Land- und Forst-
wirthschaft gegen die schädliche Menge des Wildes
ein. Landgraf Karl bestimmte 1706, daß
2234 Stück Rothwild geschossen werden sollte;
1730 weihte man 2040 dem Tode. Wilhelm IX.
setzte diese Bestrebungen mit Ernst fort, und als
das erste Drittel unseres Jahrhunderts zu Ende
ging, da war man mit der Verminderung des
Rothwildes schon beinahe auf dem heutigen Stand
punkte angelangt. —
Im Allgemeinen war der hessische Hirsch
kleiner als der im Thüringer Walde und im Harze.
Für die kleinsten galten die in der Herrschaft
Itter. Im Hessen-Darmstüdtischen kamen nicht
selten Hirsche von neun Fuß Länge, über fünf
Fuß Höhe und sechs Zentner schwer vor. Nur
ein einziges Mal findet sich ein Thier von
gleichem Gewichte im nördlichen Hessen; es wurde
am 24. September 1576 von Wilhelm IV.
erlegt. —
Besonderheiten in der Farbe der Hirsche werden
öfter berichtet, bald waren es alte Thiere, die
durch ein Versehen der Natur das weißgetupfte
Jugendkleid beibehielten, bald erzählte man von
völligen Weißlingen oder Schwärzlingen. Einen
bunten Hirsch brachten 1564 Wilddiebe am
Quiller bei Melsungen zur Strecke. Besonders
das weiße Edelwild wurde mit Vorliebe gehegt.
Die landgrüflichen Thiergärten bargen im vorigen
Jahrhundert nicht wenige solcher Seltenheiten.
Auch Unregelmäßigkeiten und Mißbildungen im
Geweih wurden aufmerksam beachtet. Da kamen
Hirsche mit einseitigem oder auch ohne Geweih
vor und wieder Hindinnen mit ausgebildeten
Stangen. 1621 erlegte der Oberst Kötteritz einen
ungeraden Fünfzehnender, dessen Kopfschmuck sich
angeblich noch im Kasseler Museum befindet. —
Häufig stellte man mit Hirschen Zähmungsversuche
an, aber nie sind diese vollständig gelungen. Ehe
Hieronymus Napoleon, der König von West
falen, die Kasseler Bürgschaft durch sein Hirsch
gespann entzückte, mußten die Hirsche jedesmal
erst mit Pferden zusammengespannt und müde
gejagt werden. Dieses Gespann fiel übrigens
1813 den Russen in die Hände. Es werden