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klarblickende Geist war gepaart mit einem reichen,
tiefen Gemüth, einer fast idealen Weltanschauung,
einem Herzen, das warm für das Elend, die
geistige Noth der Menschheit schlug. Am 24. März,
da der Lenz mit warmem Schein die ersten
Blüthen an's Licht rief, da die Natur aufathmete
nach des Winters trüben Wochen, ging die Seele
Nanny vom Hof's zur ewigen Ruhe ein.
Schmerzlos, still, ohne Kampf. Es war ein Ver
löschen des seit Jahren nur schwach flackernden
Lebenslichtes. In dem Dörfchen Hombressen, da
einst ihre Wiege stand, in dem schlicht-freundlichen
Heim, das sie sich dort für den Lebensabend ge
schaffen, schied sie aus dem Dasein.
Ein echte Hessin, die mit jeder Faser an der
engeren Heimath hing, eine hessische Schriftstellerin,
die das Wesen des Schristthums zu hochstellte,
um es durch Niedriges, Frivoles zu entwürdigen,
das war sie und das wollte sie sein. Ihre Werke
sind so rein, daß sie jedem jungen Menschenkind
unbedenklich in die Hand gegeben werden können.
Ein Vorzug, dessen sich viele Autore der neueren
Zeit nicht rühmen können.
War es auch kein strahlender Stern, der am
19. Februar 1823 in der kleinen Nanny auf
ging, so war es doch ein mildleuchtendes, wohl
thuendes Licht. Die kleine Nanny — die treue
Spiel- und Schulgeführtin meiner wenig Tage
älteren Mutter — soll bei Erlernung der ersten
Schulweisheit gar oft den Tadel des gestrengen
Herrn Kantors heraufbeschworen haben. Damals
war sie ein lebhaftes, oft wildes Kind, das sich
regelrecht mit den Gefährten im Raufen und
Klettern übte, natürlich, wenn es der Kantor
nicht sah. Das Umhertollen in der ländlichen
Flur war ihr weit angenehmer, als das Studieren
der Bücherweisheit. Die Vorliebe für die heimischen
Fluren und Wälder blieb ihr auch bis an's Ende
treu, wenngleich später die Bücher reichlich zu
ihrem Rechte kamen. Der Reinhardswald mit
seiner sagenumwobenen Sababurg war ihr be
sonders lieb.
Wann sich zuerst die schriftstellerische Schaffens
lust in der ideal veranlagten Seele regte, habe
ich nie genau ermitteln können. Die ersten Er
zählungen entstanden wohl während eines zwölf
jährigen Aufenthaltes in England, vom Jahre
1851 bis 1863. Diese Zeit, mit ihren wechsel
vollen Eindrücken, den Einblicken in das Leben
anderer Nationen, wohl auch mancherlei Be
rührungen mit geistig bedeutenden Menschen,
schuf erst die denkende Schriftstellerin.
Bemerkenswerth sind zwei Romane aus jener
Zeit, die sich zum größten Theil auf Thatsachen
stützen. Der eine, „Das schwarze Schloß",
spielt im schottischen Bergland, der andere hat
das englische Indien zum Schauplatz. Das be
deutendste der Werke Nanny vom Hof's, „Krone
und Kerker", welches trotz des renommirten
Verlags von Perthes in Gotha selbst den ge
bildeten Hessen wenig bekannt ist, behandelt das
tragische Geschick der zweiten Gemahlin Hein-
rich's VIII. von England, der schönen Anna Boleyn.
Die Schilderung der Kämpfe, die die Seele dieser
unglücklichen Frau erschütterten, ist meisterlich.
Besonders werthvoll ist der Roman jedoch durch
sein strenges Festhalten an geschichtlichen That
sachen. Die Quellen, bedeutende englische Ge
schichtswerke, sind mit großer Genauigkeit an den
betreffenden Stellen angemerkt. Daß dieses Buch
trotz alledem so unbekannt geblieben, ist ein Be
weis für den überaus bescheidenen, jeder Reklame
und Sensationshascherei abholden Sinn der Ver
fasserin. Sie hat eben nie die Alarmtrommel
rühren lassen, um ihren Werken Geltung zu
schaffen. Auch das vieraktige Schauspiel „König
Heinrichs Brautfahrt", eine normannische
Sage behandelnd, hat aus Mangel an wirksamer
Reklame keine Ausführung erlebt.
Bekannt und hoch geschätzt aber ist der Name
Nanny vom Hof's in den Kreisen Kassels,
die sich um die Heranbildung der Kleinen armer
und ärmster Volksschichten mühen. Für diese
echt weiblichen, dem Mitleid und der Menschen
liebe entsprungenen Bestrebungen hat sie nie ein
Opfer gescheut. Mochte der schwache Körper oft
schmerzlich unter Ueberreizung leiden, der allzeit
willige Geist ließ sich nicht schrecken, wenn eS
das Wohl der Kinder des armen Volkes galt.
Jahre lang stand sie im Mittelpunkt dieser
humanen Bestrebungen. Zu dieser Zeit ihres
Wirkens in Kassel lernte ich die Jugendfreundin
meiner Mutter kennen und schützen.
Was sie bewog, mir ihr besonderes, mir immer
schätz enswerthes Interesse zuzuwenden, war wohl
die Gemeinsamkeit unseres Berufes. Sie war es,
die mich nach dem ersten, schüchternen Versuch zu
fernerem Schaffen ermuthigte, mich veranlaßte,
meine Arbeiten an Berliner und Leipziger Ver
leger zu senden, sie so größerem Leserkreis zu
gänglich zu machen. Es war eben wieder ein
Zug _ ihres selbstlosen, warmen Gemüthes, das
Selbstvertrauen der zagenden Anfängerin durch
lobende Anerkennung zu heben. Das Eine, was
sie ihren Werken nicht zu geben vermochte, un
mittelbar wirkenden, ungesuchten Humor, be
wunderte sie rückhaltslos an meinen Novellen,
die ja im Bezug auf Gründlichkeit den ihren
nicht gleichkommen. —