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er mich ganz erstaunt ansah, mir die Hand
reichte und mir Einiges sagte, was mir stets un
vergeßlich bleiben wird. Damals war ich un
gefähr siebzehn Jahre alt, welcher Umstand wohl
die Veranlassung wurde, daß die Frau Geheime
räthin und Herr Weintraut sich noch kurz über
die Jugend unterhielten, die nirgends Hindernisse
sähe und in glücklicher Harmlosigkeit an die Er
füllung ihrer Ideale glaube. Mein Blick ruhte
während dessen auf einem Oelbilde, durch dessen
Florüberhang ich die Gestalt eines reizenden
Mädchens erkannte. „Ja, ich war auch einmal
jung wie Sie", sagte die liebenswürdige Frau,
die meinem Blick gefolgt war und die Hülle von
dem Bilde entfernte. Mir entfloh ein lautes
„Ah!", aber wenn mich auch das wunderschöne
Antlitz mit den schwarzen, feurigen Augen ent
zückte, so mußte ich doch Herrn Weintraut bei
stimmen, der da meinte, man könne in der Frau
Geheimeräthin das junge Mädchen im Bilde heute
noch recht gut erkennen.
Das alte Haus, wo Frau von Heusinger gegen
über der Südseite der St. Elisabethenkirche und
des darangrenzenden ehemaligen Todtenhofes
wohnte, ist seit ein paar Jahren verschwunden,
aber nie kann ich den Weg hier entlang gehen,
ohne an jene und an manche andere Stunde
dankbar zurückzudenken. So fest hasten Jugend
erinnerungen, besonders, wenn sie mit edlen,
interessanten Persönlichkeiten verknüpft sind.
Seit unserer Begegnung bei Frau Geheimerath
von Heusinger grüßte mich Herr Weintraut
immer sehr artig. Doch habe ich leider nur noch
einmal im Leben ein paar flüchtige Worte mit
ihm sprechen können. Es war etwa ein Jahr
später bei Gelegenheit eines Festessens, das den
Pfründnern des Gotteshauses und der beiden
Siechen an einem schönen Sommertage auf dem
freien Platze neben der sogenannten oberen Sieche
gegeben wurde. Woher ich das Recht nahm, dort
zu erscheinen, kann ich mir nicht mehr erinnern,
aber ich weiß noch, daß ich hauptsächlich Wein-
trauts wegen hinging. Endlich hoffte ich, dort
einmal Gelegenheit zu finden, ungestört und
gründlich mit dem Manne reden zu können,
dessen Leben und Streben mich, so lange ich
denken konnte, warm interessirt und in Gedanken
viel beschäftigt hatte.
Als das Essen vorbei war, bei dem ich und
ein anderes junges Mädchen den alten Leuten
die Speisen aufwarteten, wurde aber meine heiß
ersehnte Hoffnung durch die Dazwischenkunft eines
Marburger Geistlichen leider zu Schanden ge
macht. Herr Weintraut, dessen freundliches Ent
gegenkommen mir großen Muth einflößte, wurde
von nun an zu meinem heimlichen Kummer
vollständig durch den Herrn Pfarrer an anderen
Unterhaltungen verhindert. So nahm mir der
Zufall die Stütze wieder aus der Hand, an die
ich ein verbindendes Band zwischen dem Dichter
und mir hätte anknüpfen können. Hätte sich
damals mein Wunsch erfüllt, dann wäre ich
zweifellos heute im Stande, gründlicher über
den begabten Mann berichten zu können, als ich
es jetzt ohne tieferen Einblick in sein Leben
vermag. —
Außer der Frau Geheimeräthin von Heusinger
kannte ich noch eine geistig bedeutende Marburger
Dame, die Weintrauts Talent sehr hoch stellte.
Aber ich weiß nicht, ob der Dichter jemals mit
derselben in Berührung gekommen ist. Ich
spreche hier von Frau Doktor Justi, geb. Kuchen
becker, die unter dem Pseudonym Junta Romana
Anfangs der vierziger Jahre zwei Romane „Genre
bilder" und „Das Wildhaus" erscheinen ließ.
Die ungemein geistvolle alte Dame, die ich das
Glück hatte, oft in ihrem Heim in der Ritter
gasse*) als Kind und als junges Mädchen be
suchen zu dürfen, machte mich mit manchen
literarischen Erzeugnissen bekannt und brachte
eines Mittags, als wir lange über Dingelstedts
berühmtes Gedicht „Osterwort" unsere Gedanken
ausgetauscht hatten, auch das Gespräch auf
Dietrich Weintraut. Ganz genau erinnere ich
mich noch, niit welcher Achtung die hochgebildete
Frau von dem angeborenen schöpferischen Ver
mögen des schlichten Volksdichters sprach. Sie
verglich ihn sogar mit Hans Sachs und meinte,
daß Weintrauts naiver frischer Ton, den er in
manchen Gedichten anschlage, sie schon oft an den
berühmten Nürnberger erinnert habe. Weintraut
besitze auch dessen witzige volksthümliche Schalk
haftigkeit, aber es sei ihm ein viel lebhafteres
Naturgefühl eigen, als es Hans Sachs jemals
besessen habe. Frau Doktor Justi sprach von
zwei Gedichten Weintrauts, von einem Liede
über die Marbach bei Marburg und dem schönen
Gedichte „Wildungens Grab" **) und meinte, daß
*) Das aus einem Hintergebäude und zwei nach der
Straße gehenden Seitenflügeln bestehende Gebäude liegt
gegenüber dem lutherischen Pfarrhause.
**) Weil Weintrauts Gedichte nur noch selten zu haben
sind, lasse ich das Gedicht hier folgen:
Wildungens Grab.
Unter hohen Weimuchskiefern, unter Edeltannen, Rüstern,
Die mit Nachviolenranken in dem Abendstrahle flüstern,
An der selbstgewählten Stelle, unter selbstgepflanzten Bäumen
Schläft ein liebevoller Sänger, seinen Todestraum zu
träumen.
Wo er oft im Leben ruhte, wollt' er auch im Tode ruhen.
Schläft sich's doch im Rasenhügel wie in stolzen Marmor
truhen.
Die Natur, des Sängers Freundin, weiß des Freundes
Grab zu hüten.
Denn mit jedem neuen Lenze schmückt sie es mit frischen
Blüthen,