Full text: Hessenland (4.1890)

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er mich ganz erstaunt ansah, mir die Hand 
reichte und mir Einiges sagte, was mir stets un 
vergeßlich bleiben wird. Damals war ich un 
gefähr siebzehn Jahre alt, welcher Umstand wohl 
die Veranlassung wurde, daß die Frau Geheime 
räthin und Herr Weintraut sich noch kurz über 
die Jugend unterhielten, die nirgends Hindernisse 
sähe und in glücklicher Harmlosigkeit an die Er 
füllung ihrer Ideale glaube. Mein Blick ruhte 
während dessen auf einem Oelbilde, durch dessen 
Florüberhang ich die Gestalt eines reizenden 
Mädchens erkannte. „Ja, ich war auch einmal 
jung wie Sie", sagte die liebenswürdige Frau, 
die meinem Blick gefolgt war und die Hülle von 
dem Bilde entfernte. Mir entfloh ein lautes 
„Ah!", aber wenn mich auch das wunderschöne 
Antlitz mit den schwarzen, feurigen Augen ent 
zückte, so mußte ich doch Herrn Weintraut bei 
stimmen, der da meinte, man könne in der Frau 
Geheimeräthin das junge Mädchen im Bilde heute 
noch recht gut erkennen. 
Das alte Haus, wo Frau von Heusinger gegen 
über der Südseite der St. Elisabethenkirche und 
des darangrenzenden ehemaligen Todtenhofes 
wohnte, ist seit ein paar Jahren verschwunden, 
aber nie kann ich den Weg hier entlang gehen, 
ohne an jene und an manche andere Stunde 
dankbar zurückzudenken. So fest hasten Jugend 
erinnerungen, besonders, wenn sie mit edlen, 
interessanten Persönlichkeiten verknüpft sind. 
Seit unserer Begegnung bei Frau Geheimerath 
von Heusinger grüßte mich Herr Weintraut 
immer sehr artig. Doch habe ich leider nur noch 
einmal im Leben ein paar flüchtige Worte mit 
ihm sprechen können. Es war etwa ein Jahr 
später bei Gelegenheit eines Festessens, das den 
Pfründnern des Gotteshauses und der beiden 
Siechen an einem schönen Sommertage auf dem 
freien Platze neben der sogenannten oberen Sieche 
gegeben wurde. Woher ich das Recht nahm, dort 
zu erscheinen, kann ich mir nicht mehr erinnern, 
aber ich weiß noch, daß ich hauptsächlich Wein- 
trauts wegen hinging. Endlich hoffte ich, dort 
einmal Gelegenheit zu finden, ungestört und 
gründlich mit dem Manne reden zu können, 
dessen Leben und Streben mich, so lange ich 
denken konnte, warm interessirt und in Gedanken 
viel beschäftigt hatte. 
Als das Essen vorbei war, bei dem ich und 
ein anderes junges Mädchen den alten Leuten 
die Speisen aufwarteten, wurde aber meine heiß 
ersehnte Hoffnung durch die Dazwischenkunft eines 
Marburger Geistlichen leider zu Schanden ge 
macht. Herr Weintraut, dessen freundliches Ent 
gegenkommen mir großen Muth einflößte, wurde 
von nun an zu meinem heimlichen Kummer 
vollständig durch den Herrn Pfarrer an anderen 
Unterhaltungen verhindert. So nahm mir der 
Zufall die Stütze wieder aus der Hand, an die 
ich ein verbindendes Band zwischen dem Dichter 
und mir hätte anknüpfen können. Hätte sich 
damals mein Wunsch erfüllt, dann wäre ich 
zweifellos heute im Stande, gründlicher über 
den begabten Mann berichten zu können, als ich 
es jetzt ohne tieferen Einblick in sein Leben 
vermag. — 
Außer der Frau Geheimeräthin von Heusinger 
kannte ich noch eine geistig bedeutende Marburger 
Dame, die Weintrauts Talent sehr hoch stellte. 
Aber ich weiß nicht, ob der Dichter jemals mit 
derselben in Berührung gekommen ist. Ich 
spreche hier von Frau Doktor Justi, geb. Kuchen 
becker, die unter dem Pseudonym Junta Romana 
Anfangs der vierziger Jahre zwei Romane „Genre 
bilder" und „Das Wildhaus" erscheinen ließ. 
Die ungemein geistvolle alte Dame, die ich das 
Glück hatte, oft in ihrem Heim in der Ritter 
gasse*) als Kind und als junges Mädchen be 
suchen zu dürfen, machte mich mit manchen 
literarischen Erzeugnissen bekannt und brachte 
eines Mittags, als wir lange über Dingelstedts 
berühmtes Gedicht „Osterwort" unsere Gedanken 
ausgetauscht hatten, auch das Gespräch auf 
Dietrich Weintraut. Ganz genau erinnere ich 
mich noch, niit welcher Achtung die hochgebildete 
Frau von dem angeborenen schöpferischen Ver 
mögen des schlichten Volksdichters sprach. Sie 
verglich ihn sogar mit Hans Sachs und meinte, 
daß Weintrauts naiver frischer Ton, den er in 
manchen Gedichten anschlage, sie schon oft an den 
berühmten Nürnberger erinnert habe. Weintraut 
besitze auch dessen witzige volksthümliche Schalk 
haftigkeit, aber es sei ihm ein viel lebhafteres 
Naturgefühl eigen, als es Hans Sachs jemals 
besessen habe. Frau Doktor Justi sprach von 
zwei Gedichten Weintrauts, von einem Liede 
über die Marbach bei Marburg und dem schönen 
Gedichte „Wildungens Grab" **) und meinte, daß 
*) Das aus einem Hintergebäude und zwei nach der 
Straße gehenden Seitenflügeln bestehende Gebäude liegt 
gegenüber dem lutherischen Pfarrhause. 
**) Weil Weintrauts Gedichte nur noch selten zu haben 
sind, lasse ich das Gedicht hier folgen: 
Wildungens Grab. 
Unter hohen Weimuchskiefern, unter Edeltannen, Rüstern, 
Die mit Nachviolenranken in dem Abendstrahle flüstern, 
An der selbstgewählten Stelle, unter selbstgepflanzten Bäumen 
Schläft ein liebevoller Sänger, seinen Todestraum zu 
träumen. 
Wo er oft im Leben ruhte, wollt' er auch im Tode ruhen. 
Schläft sich's doch im Rasenhügel wie in stolzen Marmor 
truhen. 
Die Natur, des Sängers Freundin, weiß des Freundes 
Grab zu hüten. 
Denn mit jedem neuen Lenze schmückt sie es mit frischen 
Blüthen,
	        
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