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Eine Radikalkur.
krzähßlung von Wilßelm Bennecke.
Ner erste Tag des Schützenfestes hatte Jung
Nj und Alt auf der bei dem Stadtchen gelegenen
Y Anhöhe versammelt, wo der Schießstand sich
befand und die Zelte aufgeschlagen waren, in
welchen den leiblichen Genüssen gehuldigt wurde.
An Drehorgeln und einem Caroussel fehlte es
auch nicht, ein Jongleur und Spaßmacher pro—
ducirte seine Künste und ein Glücksrad bot die
oerlockynde Aussicht, zu ganz „außerordentlichem“
Gewinnst. Den Mittelpunkt des ganzen Treibens
aber bildete, wie es bei solchen Gelegenheiten
wohl überall der Fall ist, der Tanzboden, wo
die aus der nächsten Garnisonstadt herüber—
gekommene Militärkapelle ihre lustigen Weisen
erklingen ließ. Die rechte Gemüthlichkeit beim
Tanzbergnügen hatte jedoch noch nicht um sich
zegriffen, und das lag zumeist an den jungen Herren,
die sich zu den Honoratioren zählten und bei
Tag nur mit den Damen aus ihren Kreisen
tanzten. Die einfacheren Bürgermädchen aber
fanden sich hierdurch gekränkt, da dieselben wohl
aus Erfahrung wußten, daß die galanten Jüng—
linge später, wenn die Frau Bürgermeisterin
mit ihren lang aufgeschossenen Töchtern, oder
die Frau Doktor'n mit ihrer Nichte sich nach
Hause zum Abendessen begeben hatten, sie sofort
engagiren würden, aber wer ihnen bei Tag die
Ehre nicht schenkte, dem verabredeten sie sich, des
Abends einen Korb zu geben, der nicht hinter
den Spiegel gesteckt werden solle. In dem
am feinsten ausgestatteten Zelt saß an einer weiß—
gedeckten Tafel eine Gesellschaft von Herren und
Damen, denen man es ansah, daß sie sich ein—
bildeten, dem Volke mit ihrer Gegenwart gewisser—
mnaßen ein Opfer gebracht zu 'haben, aber es
konnte doch, wie die Verhältnisse in der kleinen
Stadt lagen, nicht vermieden werden, hin und
wieder mit den „Leuten“ zusammen zu kommen
und so bequemte man sich denn auch dazu, ein Stünd—
hen den Schützenhof zu besuchen uünd an einem
ceservirten Platze, wenn auch nicht an der Be—
lustigung selbst Theil zu nehmen, so doch der—
elben zuzusehen. Einer dieser Gruppen, sie be—
stand aus zwei Damen und einem Herrn, schien
sowohl von Seite der Honoratioren, wie von
dem außerhalb des Zeltes sich vorbeitreibenden
gewöhnlicheren Theil der Festgenossenschaft be—
jondere Aufmerksamkeit gewidmet zu werden, ob—
wohl in ihrem Aeußeren keineswegs was besonders
Bemerkenswerthes lag. Die eine der Damen
mochte fünfzig Jahre zählen, die andere dagegen
hefand sich noch in einem sehr jugendlichen ller.
Die Kleidung beider war sehr einfach, die Aeltere
rug ein schwarzes Lüsterkleid von altfränkischem
zuschnitt, auf dem schon grauschillernden Haar
ine Kopfbedeckung von schwarzen Spitzen, welche
jalb als Hut, halb als Haube gelten konnte.
der Gesichtsausdruck der Dame war kalt und
treng, ihre Figur schmal und unansehnlich. Es
var Frau Hulda Schröder, die Gattin des reichsten
Nannes in dem Städtchen, des Besitzers einer
vohl renommirten Tuchfabrik. Das neben ihr
tzende, junge Mädchen im bescheidenen Musseliü—
leidchen war Dora Köhler, ihre Pflegetochter,
ine anmuthige Blondine, in deren feingeschnittenem
zZesicht jedoch ein schwermüthiger Zug störend
servortrat, welcher durch den Ausdruck der großen,
unkelblauen Augen nicht gemildert wurde. Der
unge Mann, der hinter ihrem Stuhle stand,
var ein geschniegeltes Herrchen, blaß, schlank und
»erlebt, der Geschäftsfuͤhrer in der Fabrik ihres
Pflegevaters. „Bei Schröder's ist auch nicht
Alles richtig.“ flüsterten die Leute sich zu.
Seht nur, wie die Dora Köhler guckt — die
nöchte auch lieber Jemand Anders um sich
aben.“ — „Ist denn der Franz nicht zum
nden angekommen?“ „O, gewiß, gestern
Abend schon, er ist drüben beim Schießstand —
iber, wo nur der Alte stecken mag?“ — Ein
ieuer Tanz begann, der geschniegelte Geschäfts-
ührer bot Dora seinen Arm, welchen diese mit
inem tiefen Seufzer annahm und sich zum Tanz-—
»latz führen ließ. Mit einem seltsamen Blick
ah Frau Hulda dem Paare nach und schien sich
ann in Gedanken zu versenken, da trat er auf
den Plan, er, Daniel Schröder, der reiche Mann,
der Fabrikherr, der zweihundert Arbeiter im
Solde hatte, für die er, ein zweiter Heinrich
der Vierte, so väterlich sorgte, daß jeder Sonn⸗
tags seinen Braten im Topf hatte. Mützen
und Hüte wurden ihm entgegen geschwenkt, wie
iber sah diese Majestät en miniature aus? Man
stelle sich einen mittelgroßen, mageren Mann
vor, in tadellosem, ja sogar kokettem schwarzen
Anzug und blendend weißer Wäsche, den Cylinder
twas schräg auf dem Kopf, in der herabhängenden
echten Hand ein großes, blauseidenes Taschen—
uch herumschlenkernd und dabei mit Hahnen—
chritten einhergehend. Er war kaum sechsund—
ünfzig Jahre alt, aber sein kurzgeschnittenes
Zaar war schneeweiß und das kleine, aus den
Vatermördern hervorlugende Gesicht mit den
vässerigen Augen trug den unverkennbaren Stempel
»er Trunksucht. „Hoch, Herr Daniel Schröder!“